Im Gespräch mit Prof. Jean Nordmann über humanitäre Arbeit

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Geboren in La Chaux-de-Fonds, einer kleinen Stadt in der Schweiz, in den Bergen des Juras, verbrachte Jean Nordmann eine behütete Kindheit. Zum Skifahren musste er lediglich vor die Tür seines Elternhauses treten. Sein Vater besaß – sehr klassisch – eine Manufaktur für Schweizer Uhren. Er wuchs mit einer älteren Schwester auf, die ihm bereits im Alter von fünf Jahren das Lesen beibrachte.

Er studierte eine Mischung aus Medizin und Biologie. Ein Studiengang, der darauf  abzielte, junge Forscher auszubilden. Da er sich während des Studiums recht schnell langweilte, fragte er den Laborleiter einer bekannten Abteilung der Medizinischen Fakultät, ob er in einem der Teams seiner Abteilung arbeiten könne. So landete er in der Neurobiologie. Nach einer bemerkenswerten Karriere als Laborleiter und Professor beschloss er im Alter von 44 Jahren sein Institut zu verlassen, um sich der humanitären Arbeit zu widmen. Mehr als 20 Jahre lang arbeitete er als Delegierter und Missionsleiter für das Internationale Komitee des Roten Kreuz, für die UNO und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Er war in vielen afrikanischen Ländern sowie in Papua (Indonesien), Afghanistan und Ex-Jugoslawien stationiert. Heute betreibt er als Pensionär ein Bead & Breakfast in Basel. So haben wir uns kennengelernt. Ich verbrachte meinen Geburtstag bei ihm, den er in ein besonderes Erlebnis verwandelte.

Wir haben das Interview auf Englisch geführt, der Wissenschaftssprache die uns beide verbindet. Den Beitrag im Original kannst du dir als PDF hier ansehen.

ACHTUNG! Trigger-Warnung: Wir werden im Verlauf des Gesprächs mehrfach auf den Krieg zu sprechen kommen. Die Inhalte sind möglicherweise für sensible Menschen schwer zu verkraften.

Was haben Sie als Neurobiologe erforscht und hat es Sie fasziniert?

Wir wollten herausfinden, wie Nervenzellen miteinander und mit Zellen aus anderen Geweben kommunizieren. Man muss verstehen, dass die Menschen dazu neigen Wissenschaft in einem falschen Licht zu sehen. Neunundneunzig Prozent der Zeit macht man langweilige Arbeit, man muss ein Experiment immer und immer wieder wiederholen, und erst am Ende hat man das Vergnügen, die Daten zu analysieren. Erst dann wird die Arbeit wirklich interessant.

Ich hatte Glück, denn ich wurde schon in jungen Jahren zum Professor ernannt. Ich muss zugeben, dass ich liebte was ich tat, ich war praktisch mit meiner Forschung verheiratet. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Doktoranden zu unterrichten, was ich als sehr lohnend empfand, denn diese jungen Leute waren wirklich an der Wissenschaft interessiert.

Was haben Sie bei ihrer Arbeit über das menschliche Gehirn gelernt?

Neben schönen und erstaunlichen Dingen habe ich verstanden, dass die Menschheit trotz ihres Gedächtnisses nicht viel darüber lernt, wie man Gewalt vermeiden kann.

Obwohl Sie ein erfolgreicher Forscher waren, haben Sie mit Mitte vierzig beschlossen, die Wissenschaft zu verlassen. Warum das?

Anfangs hat mir niemand geglaubt, als ich sagte, ich würde aufhören. Aber nach 24 Jahren, in denen ich mehr oder weniger im Labor gelebt habe, wollte ich einen Teil meiner Jahre den Kindern widmen, die in kriegsgebeutelten Ländern aufwachsen. Aber der Witz ist, dass ich immer Wissenschaftler geblieben bin, denn wenn ich im Urlaub war, habe ich einen Freund in den USA besucht, um in seinem Labor zu arbeiten (oder zu spielen). Man hört nie auf etwas zu lernen! Ich lerne auch heute noch etwas über die Wissenschaft, auch wenn ich schon lange im Ruhestand bin. Ich bin immer noch von Kopf bis Fuß Wissenschaftler.

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Leitung eines Labors und der Rolle eines Missionsleiters?

Die Art und Weise wie man ein wissenschaftliches Projekt verteidigen muss, ist die gleiche wie die, seine Präsenz in einer Region zu verteidigen, wenn man es mit bewaffneten Soldaten oder dem Polizeichef oder dem Präsidenten zu tun hat. Man muss sein Denken erklären und überzeugende Argumente finden.

Was war Ihre Motivation, humanitäre Arbeit zu leisten, und warum haben Sie sich für Afghanistan und Afrika entschieden?

Am Anfang war die Hilfe für Kinder meine größte Motivation, aber im Laufe meiner Arbeit wurde mir klar, dass jeder froh ist, wenn ihm geholfen wird.

Ich habe mir meine Einsätze nie ausgesucht, sondern war immer bereit, dorthin zu gehen, wo die Organisation, für die ich arbeitete, mich hinschickte. Der Hauptunterschied zu anderen Orten ist der Krieg. In unseren Straßen gibt es keinen Krieg. Wenn man in einem Gebiet arbeitet, in dem Krieg herrscht, kann man nicht erwarten, dass man eine Entwicklung sieht, man muss schnell denken und handeln. Das entsprach meiner Arbeitsweise. Außerdem macht es mir nichts aus, unter Bedingungen zu leben, die sich von denen zu Hause unterscheiden, z.B. in Bezug auf die Wohnsituation oder das Essen.

Nomaden zogen trotz des Krieges mit ihren Tieren über das Land. Das Foto zeigt eine Nomadin aus der Provinz Badakhshan in Afghanistan (2003)

Wie hat Ihre Familie auf Ihre Ambitionen reagiert?

Meine Kinder waren bereits alt genug, um selbst an der Universität zu studieren. Sie verstanden meine Gründe für den Wechsel meines Berufsweges. Selbst meine Eltern, die anfangs nicht ganz begriffen, warum ich eine gut bezahlte Festanstellung aufgab, haben mich sehr unterstützt. Was mir sehr bald klar wurde war die Rolle der Medien bei Konflikten. Meine Mutter bewahrte alle lokalen Zeitungsartikel über die Kriege auf, in denen ich gewesen war, und ich war schockiert über das, was in diesen Artikeln stand. Die Hälfte davon stimmte aus meiner Sicht von den Fakten her nicht. Im Gegensatz zu dem, was meine Eltern in den Zeitungen lesen konnten, war unser Leben nicht jeden Tag gefährlich.

Was die Leute nicht wissen ist, dass selbst im Krieg nicht jede Sekunde gefährlich ist. Schwer zu verkraften ist hingegen, dass man nie weiß wann ein Angriff kommt oder ob er überhaupt stattfindet. Die Ungewissheit ist das Problem. Das heißt aber nicht, dass wir ständig unter Beschuss standen.

Wie haben Sie mit den Menschen in ihren Einsatzgebieten kommuniziert?

In Ländern, in denen ich die Sprache nicht beherrschte, hatte ich immer einen Dolmetscher. Das hat die Dinge manchmal komplizierter gemacht, denn wenn man zum Beispiel mit dem Anführer einer Rebellengruppe sprechen will, möchte man lieber mit dieser Person allein sein. Aber meine Erfahrungen mit den nationalen Mitarbeitern waren ausgezeichnet. Sie haben immer fantastische Arbeit geleistet. Ohne die nationalen Mitarbeiter könnten die humanitären Organisationen nicht arbeiten. Deshalb hätte es meiner Meinung nach keine Diskussion über den Abzug des einheimischen Personals aus Afghanistan geben dürfen. Sie hätten in unsere Länder geholt werden müssen. Ohne diese Menschen war unsere Arbeit nichts wert. Sie sind das Bindeglied zwischen den internationalen Organisationen, den NROs, den Behörden und der Bevölkerung.

Was waren Ihre Ziele bei der Arbeit in den Kriegsgebieten und was wollten Sie erreichen?

Wir hatten viele Ziele, z. B. Hilfe zu leisten für die Bevölkerung, Krankenhäuser, Kliniken und orthopädische Zentren. So haben wir zum Beispiel Menschen, die durch Landminen ein oder gar beide Gliedmaßen verloren haben, mit Prothesen versorgt. Wir haben auch Menschen geholfen, ihre Angehörigen zu finden, die sie im Krieg verloren hatten. Wir haben Gefangene besucht oder den Streitkräften das humanitäre Völkerrecht beigebracht und vieles mehr.

Werkstatt zur Herstellung von Prothesen. Hier aus Faizabad in Afghanistan (2004)

Es ist wichtig sich bewusst zu machen, dass alles was man tut letztendlich wenig ist. Als ich in der Wissenschaft gearbeitet habe, habe ich manchmal mit Elektronenmikroskopie gearbeitet. Bei allem was ich später tat stellte ich mir vor ich hätte ein Elektronenmikroskop, das die kleinen Dinge, die wir erreichten, zu etwas Großem machen würde! Weißt du, von außen betrachtet ist das was wir erreichen nichts, aber für die Menschen auf dem Land kann es eine ganze Menge sein. Ihr Lächeln ist für mich wichtig. Wir haben einmal ein Kind zu einer Mutter zurückgebracht, nachdem sie zwei Jahre voneinander getrennt waren. Beide dachten der andere sei umgekommen. Ihre Gesichter zu sehen, als sie wieder vereint waren, war eine große Freude für uns.

Wenn ein Dorf von bewaffneten Kämpfern angegriffen wird, flüchten die Menschen Hals über Kopf. Nicht selten werden dann Familien voneinander getrennt. Den internationalen Organisationen fällt die Aufgabe zu, diese versprengten Familienmitglieder wieder zu vereinen, wie hier in der östlichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo. Mutter und Sohn hatten sich zwei Jahre nicht gesehen und jeder dachte, der andere sei ums Leben gekommen (1996).

Wie haben Sie diese Ziele denn erreicht?

Ich habe gelernt, dass man extrem geduldig sein muss, damit Dinge in Gang kommen. Um seine Ziele zu erreichen, muss man die Menschen kennen lernen, man muss mit ihnen reden. Manchmal dauert es sehr lange, bis man die Erlaubnis erhält in einem bestimmten Territorium zu arbeiten. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ich die Geduld aufbringen musste drei Monate zu warten, bis ich mich mit den hohen Behörden des Landes treffen konnte. Von diesem Zeitpunkt an war alles ganz einfach.

Diese Frauen sind mit ihren Kindern aus ihrer Heimat in Süd-Darfur in dieses Flüchtlingscamp geflohen und warten nun auf Lebensmittel und andere Güter, um sich zu versorgen. Sie sitzen seit Stunden in der Sonne. (Nyala, 2005)
Dieser Junge aus dem südlichen Darfur nimmt Gelegenheitsjobs in Nyala an, um sich über Wasser zu halten, weil seine Eltern beide umgekommen sind (2005).
Diesem Mann aus Mauretanien rannen Tränen über die Wangen, weil er zum ersten Mal in seinem Leben keinen einzigen Tropfen Tee mehr besaß, den er den Gästen anbieten konnte. (Hode ich Chargui, 2008)

Lassen Sie uns näher auf Ihre Lehrtätigkeit im Bereich des humanitären Völkerrechts eingehen, die Sie zuvor erwähnt haben. Wie hat das funktioniert?

Weißt du, viele Soldaten haben keine Ahnung vom humanitären Völkerrecht. Ich hätte in die Hauptstädte einiger bekannter Länder gehen sollen! Nein im Ernst, selbst in der Schweizer Armee wird die Grundausbildung ohne jeden Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht durchgeführt. Und dabei wurde ein Teil davon bereits 1907 eingeführt. Dies konzentrierte sich auf die kämpfenden Soldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es durch Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung und der politischen Gefangenen ergänzt. Die Wahrheit ist jedoch, zumindest nach meiner Erfahrung, dass – selbst wenn die Menschen das Gesetz verstehen – kaum jemand diese Regeln befolgt. Schau dir nur den Vietnamkrieg an, oder das was jetzt in der Ukraine passiert, und du verstehst was ich meine.

Aber um es mal optimistisch auszudrücken: Manchmal funktioniert es! Bei einem Einsatz, zu dem ich abkommandiert wurde, änderten die kämpfenden Parteien ihr Verhalten völlig, nachdem sie etwas über das humanitäre Recht gelernt hatten, und sie betrachteten ihren Feind mit anderen Augen. Das war sehr interessant zu sehen.

Die größte Veränderung in den letzten 20 Jahren ist, dass die Taten nicht so schnell vergessen werden. Mit anderen Worten, es werden Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, was während des Krieges wirklich passiert ist.

Waren Sie jemals versucht aufzugeben?

Nein! Ich habe einen ziemlichen Dickschädel. Wenn ich etwas erreichen will, gehe ich bis zum Ende. Es gibt nichts Schöneres, als den Menschen eine Perspektive zu geben. Wenn eine Familie nichts zu essen hat, der Vater umgekommen ist und man ihnen helfen kann, so dass sie überleben, dann ist das sehr befriedigend. Ich habe Häftlinge besucht, denen aufgrund unserer Besuche versichert wurde, dass sie nicht verschwinden werden. Ich habe immer noch einen Brief aus dieser Zeit, in dem sich Gefangene bei uns bedanken und erklären, dass sie ohne unsere Unterstützung Selbstmord begangen hätten.

Was war Ihr schwierigster Einsatz?

Vielleicht der in Bosnien-Herzegowina, denn wie die Menschen in der Ukraine jetzt, fühlte es sich an als wären sie Cousins. Es war ein Krieg nebenan. Als ich dort hinkam und all diese Gefangenen sah, war ich an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Sie waren nur aus politischen Gründen eingesperrt worden. Erst waren die Kämpfenden Brüder und wurden plötzlich zu Feinden.

Für die Menschen dieser zerbombten Stadt in Ex-Jugoslawien wurde es zu einer der wichtigsten Aufgaben jeden Tag frisches Wasser zu holen. (1994)

Welche Eigenschaften sind für die humanitäre Arbeit wichtig?

Geduld und Beharrlichkeit sind meiner Meinung nach wichtig. Ich werde dir ein Beispiel geben: Ich habe in einer Region gearbeitet, in der wir für die Einreise ein Papier der Behörden benötigten. Es war schwierig diese Papiere zu bekommen. Der Kern des Problems war ein Wettbewerb zwischen zwei Ministern. Einer von ihnen bat mich irgendwann, in sein Büro zu kommen. Ich zog also meine Krawatte an und beeilte mich zu ihm zu kommen. Aber man ließ mich warten. Drei Stunden später ging sein Sekretär und ich fragte ihn, ob der Minister wisse, dass ich noch da sei. Er sagte, er nehme es an. Weitere zwei Stunden später verließ der Minister sein Büro und sah mich warten. Er fragte mich: “Was machen Sie hier?” und ich antwortete: “Nun, Sie haben mich für 12 Uhr einbestellt.” “Das habe ich völlig vergessen”, war seine ehrliche Antwort. Ich sagte ihm, dass ich dachte, er wolle ein Experiment durchführen, um zu sehen, ob weiße Menschen aus Europa das sehr heiße Klima fünf Stunden lang aushalten können, ohne zu trinken. Kurze Zeit später wurde ich nicht nur mit Essen und Trinken versorgt, sondern auch mit einem Papier, das uns erlaubte, in der oben genannten Region zu arbeiten. Wir waren die einzigen die jemals ein solches Papier erhalten haben und ich bin sicher, es lag nur daran, dass ich fünf Stunden lang gewartet hatte.

Persönlicher Kontakt, um Vertrauen aufzubauen, ist eine weitere hilfreiche Sache. In Afrika gibt es oft Kontrollpunkte, die von Kindersoldaten bewacht werden. Als Missionsleiter habe ich vor Ort immer mit diesen Kindern gesprochen. Ich habe mir die Zeit genommen ein richtiges Gespräch zu führen. Nach einer Weile kannten sie uns. Weil sie uns kannten und uns vertrauten, konnten wir jeden Kontrollpunkt passieren. Einmal rief mich der Präsident an, um mir mitzuteilen, dass einige seiner Leute von den Rebellen freigelassen worden waren. Sein Problem war, dass er niemanden schicken konnte, um sie zu holen, denn wir waren die Einzigen, die dieses Gebiet betreten durften. Wir nahmen also unsere drei Autos, um die Leute abzuholen. Wir passierten alle Kontrollpunkte ohne Probleme, denn die Kindersoldaten kannten uns aufgrund unserer zahlreichen vorherigen Gespräche.

Besser zu dritt auf dem Fahrrad als alleine zu Fuß. Soldaten der östlichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo. (2010)
Freiheitskämpfer aus Süd-Darfur (Sudan, 2005)

Wie verarbeiten Sie das, was sie gesehen und erlebt haben?

Während des Einsatzes hatte ich nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Es kam erst alles zurück, als ich nach 22 Jahren aufhörte mit der humanitären Arbeit. Ich sah Weinende, Tote, Massengräber, Eingeweide von Menschen, die als Seile für Kontrollpunkte verwendet wurden und vieles mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals damit fertig werde.

Welchen Rat geben Sie jungen Menschen, die in Ihre Fußstapfen treten wollen?

Es ist ein Unterschied ob ich 25 oder 55 bin, wenn ich für eine humanitäre Organisation arbeite. In höherem Alter ist man vielleicht eher in der Lage Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann. Außerdem ist es wahrscheinlicher, dass man als Autorität akzeptiert wird.

Was ich jungen Menschen normalerweise sage, ist folgendes: Arbeitet zuerst in eurem eigenen Land, und geht dann in die schwierigen Länder. Und bleibt nicht zu lange an einem Ort. Wenn ihr das tut, besteht die Gefahr, dass ihr nie wieder weggeht. Wechselt also euren Einsatzort.

Wenn man sich aktiv für Hilfsbedürftige einsetzen möchte, sind NGOs dann ein guter Ausgangspunkt?

Das erste was ich immer dazu sage ist, dass es in unseren eigenen Ländern viel zu tun gibt. Bei uns leben Menschen auf der Straße, es gibt Kinder die nicht gut versorgt sind, es gibt viele alte Menschen die Hilfe brauchen, und natürlich haben wir Flüchtlinge. Man muss also nicht nach Afghanistan oder Afrika gehen, um zu helfen.

Sie haben ein Buch mit dem Titel “Beauty in Bitterness” veröffentlicht. Es enthält Bilder, die Sie bei Ihren Einsätzen gemacht haben, um sie Ihrer Familie zu zeigen. Wie ist aus der Sammlung ein Fotobuch geworden?

Eine Dame, die sich in der Basler Kultur engagiert, sah meine Bilder und überzeugte mich, sie der Öffentlichkeit zu zeigen. Es gelang ihr eine Ausstellung zu organisieren. Ich stellte die Bilder zur Verfügung und schrieb kurze Texte über die Geschichten der Menschen auf den Bildern. Nach der Ausstellung beschlossen wir, daraus ein Buch zu machen. Ich fand es interessant zu sehen, dass die Leute die Bilder schön fanden, bis sie den Text darunter lasen und so die Umstände erfuhren. Einige von ihnen fingen an zu weinen, als sie erkannten, welche Geschichte sich hinter dem Foto verbirgt.

Ich habe jedoch mit der Zeit verstanden, dass die Menschen schnell vergessen, weil sie es müssen. Wir können nicht ewig mit einer so harten Wahrheit leben. So war es auch, als ich nach dem Ende eines Einsatzes meine Geschichten erzählte. Freunde luden mich ein, um von meiner Arbeit zu hören, aber nach fünf Minuten ging das Gespräch zu sanfteren Themen über. Ich kann niemandem die Schuld dafür geben, aber das passiert uns allen, die in der humanitären Arbeit tätig sind. Es ist zu schwierig sich das anzuhören, weil es in erster Linie sehr schmerzhaft ist und weil die Menschen vielleicht erkennen, dass sie ein viel besseres Leben führen als Menschen in anderen Teilen der Welt. Sie fühlen sich dem gegenüber hilflos. Wir ziehen es vor zu vergessen, oder wir fragen nicht, weil wir Angst vor den Antworten haben.

Sind Sie heute eher optimistisch oder pessimistisch, was die Lage der Nationen angeht?

Eine Medaille hat immer zwei Seiten. Ich betreibe jetzt ein Bed & Breakfast und treffe viele junge Leute die wunderbare Dinge tun. Wenn ich hingegen morgens in die Zeitung schaue, nichts als schlechte Nachrichten, keine positiven Geschichten!

Ich freue mich, dass es in der Schweiz eine große Welle der Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge gibt. Aber seien wir ehrlich, sie haben glattes blondes Haar und einen hellen Hautton. Ich stelle jedoch fest, dass die Menschen langsam erkennen, dass wir einen Unterschied machen, je nachdem wo ein Flüchtling herkommt. Ich hoffe, dass wir bald auch Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt offener gegenüberstehen.

Sie verwenden Ihre Einnahmen aus dem B&B und sammeln Spenden, um verschiedene Projekte in der ganzen Welt zu unterstützen.  Mögen Sie uns diese Projekte vorstellen?

Ja, natürlich! Ich beschreibe sie am Besten der Reihe nach:

  1. Eine Schule für AIDS-Waisen im Busch von Zentralafrika, die zum Teil mit dem Geld des B&B gebaut wurde, wird weiter von uns unterstützt.
  2. Eine Familie in Afrika mit zwei eigenen Jungen hat sechs Waisenkinder adoptiert. Außerdem beherbergt sie eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die ihr Dorf verlassen hat, nachdem ihr Mann ermordet wurde. Trotz eines Gehalts haben sie nicht genug, um diese große Anzahl von Menschen zu unterstützen. Wir versuchen daher, ihnen zu helfen.
  3. Wir finanzieren ein kleines Projekt, das es einem Jugendlichen ermöglicht, eine neue Beinprothese zu bekommen, nachdem auf ihn geschossen worden war. Er lebt in einem Dorf in einer Region, in der Boko Haram aktiv ist. Mit den Spendengeldern werden seine medizinische Behandlung und das Schulgeld bezahlt. Er ist inzwischen Klassenbester, muss aber alle zwei Jahre eine neue Prothese bekommen.
  4. Wir unterstützen die kleine Angel, die in den Slums von Kenia lebt, damit sie medizinisch versorgt werden kann. Sie wurde ausgesetzt als sie nur ein paar Stunden alt war. Anita fand sie und adoptierte sie. Dann zerstörte ein Feuer ihr Zuhause. Zu allem Überfluss wurde bei Angel wenige Monate nach ihrer Geburt eine autistische Störung diagnostiziert. Jetzt beginnt sie zu laufen und zu sprechen. Sie liebt es zu singen.
  5. Wir zahlen darüber hinaus die Studiengebühren für ein brillantes junges Mädchen in Polen (die Tochter eines erstaunlich sachkundigen Führers, den wir in Auschwitz kennengelernt haben) und für ihren Bruder sowie für die Tochter eines Kollegen von mir, der in Mostar (Bosnien) lebt und mit mir während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet hat.

Diese Kosten belaufen sich in Summe auf 46.000 Euro pro Jahr.

Wie können die Menschen Ihre Wohltätigkeitsorganisation unterstützen?

Zunächst einmal möchte ich Folgendes sagen: Es stimmt, dass bei Nichtregierungsorganisationen eine große Lücke klafft, zwischen den Spendensummen und dem, was wirklich bei den Menschen ankommt. Aber ich bestehe darauf, dass wir internationalen Organisationen und NGOs helfen sollten.

In meinem Fall sind die Projekte viel kleiner. Ich habe die Familien ausgewählt, weil ich sie kenne. Sie sind also die Glücklichen. Ich weiß, dass es Millionen von anderen gibt, die nicht unterstützt werden. Man kann also über diesen Ansatz diskutieren, aber was die Spender an unseren Projekten schätzen ist, dass sie über eines sicher sein können: 100 Prozent der Gelder kommt bei den Bedürftigen an.

Wenn sich deine Leser direkt engagieren wollen, hier sind die Details für das Spendenkonto:

Bank Account
School Africa
Jean Nordmann
Hebelstrasse 85
4056 Basel

IBAN: CH81 0840 1000 0543 5183 9
SWIFT: MIGRCHZZ80A
Migros Bank AG
Aeschenvorstadt 72
4051 Basel, Schweiz
Clearing: 8401

Haben Sie noch eine Botschaft an meine Blogleser zum Abschluss?

Ich gebe eigentlich nicht so gerne Ratschläge. Ich hätte nie gedacht, welch großen Einfluss die Geschichte meines Lebens auf andere Menschen hat. Sie finden es erstaunlich, dass ich meine Arbeit als Professor und in der Forschung – die ich geliebt habe – aufgeben konnte, um humanitäre Arbeit in kriegsgebeutelten Ländern zu leisten. Manche Leute kommen also zu mir und bitten mich um Rat, wie sie ihr Leben leben sollen.

Mein Rat ist dieser: Solange du niemanden verletzt, tue was du willst! Und zweitens: Man muss nicht nach Afrika gehen, um etwas zu bewirken. Wir brauchen auch in unserer Gesellschaft Menschen die helfen.

Danke, dass Sie Ihre Geschichte mit uns geteilt haben Jean. Es bedeutet mir sehr viel!

Mein heutiger Interviewpartner war:

Jean Nordmann (geb. 1948) – Studium und Promotion in Neurobiologie in Genf, Schweiz, Postdoktorat in Cambridge und Göttingen. Trat 1992 als Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique in Frankreich zurück, um für internationale Organisationen und NGOs zu arbeiten. Er lebt heute in Basel. 

Wenn du Jean direkt kontaktieren möchtest,
schreib ihm eine E-Mail an: nordmannjj@yahoo.fr
Er ist auch per Telefon zu erreichen: (+41) 061 321 93 42

Jeans Buch “Beauty in Bitterness” gibt es im Handel leider nicht mehr, er verschickt auf Anfrage das PDF dazu aber gerne gegen eine kleine Gebühr. Die Aufnahmen in diesem Interview stammen alle aus diesem Bildband. Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Fotografen. Anfragen bitte direkt an Jean Nordmann.

Zum Schluss noch dies: Ich führe die Interviews im Rahmen der Gesprächsreihe mit großer Leidenschaft und stecke viel Energie hinein, weil es mir wichtig ist, dass Menschen die sich für die Gesellschaft engagieren, eine Stimme bekommen. Wenn du jemanden kennst, der hier unbedingt zu Wort kommen sollte, dann freue ich mich über deinen Hinweis.

Im Gespräch mit Dr. Stefan Gumbrich über Leben im Einklang mit der Natur

Mein Gesprächsgast wählt sich gut gelaunt in Zoom ein, denn gerade wurden auf seinen Wiesen zwei Ziegen geboren. Stefan Gumbrich hat in der Südpfalz mit seiner Partnerin Betti und einem befreundeten Paar einen Selbstversorgerhof aufgebaut und hat sich damit einem Lebenstraum erfüllt. Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg.

Er wurde an der Fachhochschule in Bingen zum Ingenieurinformatiker ausgebildet, schloss in Paderborn ein Informatikstudium an und stieg bei IBM ein, wo er in den ersten Jahren berufsbegleitend seine Promotion absolvierte. Er war für den IT-Konzern 2o Jahre lang in der Unternehmensberatung als Führungskraft tätig, bevor er im Spätsommer 2013 ausschied. Wie es zu diesem Einschnitt kam, welchen Weg er danach nahm, was er dabei über sich und das Leben gelernt hat und warum er jetzt auf der Suche nach Menschen ist, die sich in sein Selbstversorgerprojekt einbringen  – darüber wollen wir reden. 

Stefan nimm uns doch mal mit in die Erfahrung die du gerade gemacht hast. Du sagst eure Ziegen haben Babys geboren?

Ja, insgesamt kamen in den letzten Tagen 6 Schaflämmer und 3 Zicklein zur Welt. Die beiden Ziegenmütter haben zum ersten Mal geboren, das ist immer ein bisschen aufregend: achtgeben, ob es Komplikationen bei der Geburt gibt; aufpassen, dass die Nachgeburt vollständig rauskommt; helfen wo nötig, aber auch nicht zu viel stören, da es sonst sein kann,  dass sie die Babys nicht annehmen. Ich schaue auch, ob sie Milch haben und die Kleinen trinken. Es hat diesmal  alles sehr gut funktioniert.

Ich habe die Ziegenmutter mit ihren zwei Babys, die vor zwei Stunden geboren wurden, gerade noch separiert. Sie sind jetzt in einen Raum im Stall, in dem sie sich ungestört aneinander gewöhnen können und sich nicht verlieren.

Dabei habe ich festgestellt, dass die Mutter einen zu dicken Euter hat, an dem die Babys bisher noch nicht richtig saugen können. Ich hoffe jetzt dass sie es schaffen. Ich gehe nachher nochmal kontrollieren. Wenn es nicht klappt ist die Alternative Sie mit der Flasche zu füttern. Dann muss ich alle zwei Stunden raus – auch nachts. Ich hoffe also, dass es nicht soweit kommt!

Die kleinen Ziegen sehen schon sehr erwachsen aus. Woher wusstest du denn, dass es heute soweit ist?

Sofort nach der Geburt versuchen die kleinen Ziegen aufzustehen und nach zwei Stunden können sie bereits gut laufen.
Ich beobachte die Muttertiere genau und so wusste ich, dass die Geburt heute passiert. Das gibt mir ein ganz warmes Gefühl. Das ist das Schöne am Selbstversorgerprojekt: Du bekommst den gesamten Kreislauf mit von der Schwangerschaft, über die Geburt, das Leben bis hin zum Tod.

Wenn das Neugeborene ein Böckchen ist, weißt du, dass du es leider schon in einem Jahr loslassen musst. Ich versuche es dann an einen anderen Hof zur Zucht abzugeben. Wenn das aber nicht klappt, muss ich es schlachten, denn für eine separate Bockherde ist unsere Herde zu klein und wenn ich die Böcke bei den Muttertieren lasse decken die Böcke ihre eigene Mutter und ihre Schwestern, was für die Zucht schlecht ist.

Wie geht es dir damit, wenn du eine Ziege die du zur Welt gebracht hast schlachten musst?

Das fällt mir sehr schwer, weil ich diese Tiere jeden Tag sehe, pflege, streichele, liebgewonnen habe. Ich mache das auch nur zu einem Zeitpunkt den ich als passend empfinde; an einem Tag an dem ich ausgeglichen und ruhig bin. Die Energie muss passen. Für mich ist das eine Handlung, bei der ich sehr behutsam mit dem Tier umgehe. Trotzdem töte ich es, daran werde ich mich nie gewöhnen. Aber die Alternative würde es nur mir leichter machen. Wenn ich das Tier in einen Anhänger verlade und zu jemandem hinbringe der es tötet, ist das für das Tier viel unangenehmer, weil es beim Transport Stress empfindet, an einen Ort gebracht wird den es nicht kennt. Daher töte ich die Ziege selbst, aus Respekt vor diesem Tier, auch wenn ich mich gerne davor drücken würde.

Bis zu diesem Punkt in deinem Leben war es ein weiter Weg. Nimm uns doch mal ein Stück mit in deine Vergangenheit.

Ich hatte eine schöne Kindheit, bin in behüteten Verhältnissen in einem kleinen Ort in Rheinhessen aufgewachsen. Ich bin sehr dankbar dafür, wie ich aufgewachsen bin, denn ich hatte alle Möglichkeiten. Das was ich heute tue ist ein Ergebnis des Lebenswegs den ich gehen konnte. Ich bin hervorragend ausgebildet, habe viel Geld verdienst, war erfolgreich in Unternehmensberatung und Management und haben dann festgestellt, dass das nicht alles ist. Die Wahl zu haben so weiterzumachen und Wohlstand anzuhäufen, oder den Lebensweg zu wählen, den ich jetzt gehe, empfinde ich als ein unglaubliches Privileg.

Was war denn der Auslöser für den Wandel?

Meine Triebfeder im Leben ist, dass das was ich tue spannend sein muss und mich fordert.

Ich hatte in der Unternehmensberatung bei IBM irgendwann das Gefühl, dass mich das nicht mehr weiterbringt. Ich hatte so viel Erfahrung in verschiedenen Projekten gesammelt, unterschiedlichste Methoden kennengelernt, und mich dabei auch immer wieder auf die unterschiedlichsten Menschen eingelassen. Neue Projekte konnten mich einfach nicht mehr herausfordern. Es hat sich auch kein WOW!-Gefühl mehr eingestellt, wenn ein Projekt erfolgreich, oder ein neuer Vertrag abgeschlossen war. Damit war für mich der Reiz weg und es musste etwas Neues kommen.

Der logische Schritt wäre gewesen das Unternehmen zu wechseln, eine Stufe höher zu steigen und mehr Geld zu verdienen – diverse Angebote dazu gab es. Mir war an dem Punkt klar, dass dieser Schritt nicht der richtige Weg wäre. Ich wollte ein anderes Gleichgewicht in mein Leben bringen. Da ich eher zu den Extremen als zu den kleinen Schritten neige, bin ich nach Afrika ausgewandert.

Dazu sollte ich an dieser Stelle vielleicht erklären, dass wir 25 Jahre ein Paar waren. In diesen Jahren haben wir mehrere Transafrikareisen zusammen unternommen und sind dabei unter anderem bei einem Projekt in Togo, Westafrika vorbeigekommen, das dich sehr fasziniert hat. Warum?

Ich bin als Naturwissenschaftler bzw. Informatiker in einer sehr faktenorientierten und wissensorientierten Welt groß geworden. Auf den Reisen durch Afrika ist mir bewusst geworden, dass es andere Aspekte gibt, die mir bis dahin fremd waren. Mich haben vor allem die vielfältigen Begegnungen mit Menschen fasziniert, die ein Urvertrauen in geistige Kräfte haben.

Insbesondere bei der Gruppe die wir in Togo kennenlernen durften, habe ich festgestellt, dass da etwas ist, was für mich wichtig ist und mich weiterbringen kann. Das war für mich der Moment als ich mich entschied, bewusst nach dem anderen Teil der Schöpfung zu schauen, den ich bisher wenig wahrgenommen hatte.

Es war aber nicht nur die spirituelle Entwicklung die mich angezogen hat, sondern auch die private Entwicklungshilfe. Die Gruppe hat beispielsweise ein Waisenhaus betrieben und sich um die Gesundheit der Lokalbevölkerung gekümmert. Das gepaart mit dem Aspekt der Selbstversorgung hat mich angesprochen. Im Endeffekt lief alles auf den nächsten Schritt der Persönlichkeitsentwicklung hinaus. Es gehört zu meiner Wesensart, dass ich nicht nach hinten sondern meist nach vorne schaue. Daher habe ich mich in Togo darauf konzentriert eine neue Welt zu entdecken und damit für mich persönlich einen großen Schritt vorwärts zu tun.

Beschreib doch mal, wie wir uns dieses Projekt vorstellen können

Innerhalb des Projektes haben wir sehr einfach gelebt. Ich hatte eine kleine Hütte mit einem Betonpodest als Bett für mich. Wir haben fast alles in der Gemeinschaft von über 70 Leuten gemacht. Ich habe den Umgang mit den 50 Waisenkindern geliebt. Zu sehen, dass ich ihnen etwas geben kann, an ihrer persönlichen Weiterentwicklung teilhaben kann, das war sehr schön. Das ging über den Schulunterricht hinaus, denn wir haben z.B. auch handwerklich gemeinsam gearbeitet. Ich war auch fasziniert davon, von den Kindern zu lernen. Einiges können sie besser als wir Erwachsene, vor allem in Bezug auf den Umgang mit Tieren.

Was mich auch erfüllt hat war die Arbeit mit der Buschambulanz. Wir sind mit Ochsenkarren in die Dörfer gefahren und haben eine mobile Krankenstation aufgebaut. Für mich war immer wieder faszinierend zu sehen, dass wir mit einfachen Medikamenten (konventionell und pflanzlich) Leben retten konnten. Würmer und Amöbenruhr waren sehr häufig, auch bei kleinen Kindern. Als wir kamen, waren sie apathisch, eine Woche später waren sie schon wieder aktiv. Das waren sehr einschneidende Erlebnisse für mich. Die Wirkung meines Tuns war dort eine ganz andere. Hier konnte ich helfen Leben zu retten, in meinem alten Job habe ich minimale Änderungen in Unternehmen hervorgerufen, die dazu führten, dass Umsatz und Profit gesteigert wurden.

„Die Energie die ich hier eingesetzt habe, hat zu einem größeren Nutzen geführt, ich hatte einen größeren Hebel. In Deutschland hat das gleiche Gefühl bestimmt jede Krankenschwester die auf der Intensivstation Corona-Patienten betreut. Man muss also nicht zwingen nach Afrika fahren, um die gleiche Erfahrung zu machen.“

Ich habe mich in der Gruppe auf der geistigen und auf der materiellen Ebene mit anderen Dingen beschäftigt als zu Hause und gesehen, dass das für mich funktioniert. Ich habe darüber auch eine gewisse Leichtigkeit entwickelt. Ich hatte kein Einkommen und keine Krankenversicherung. Mir hat das aber ein Gefühl von Freiheit gegeben, weil ich festgestellt habe, dass ich nichts tun muss, wovon ich nicht überzeugt bin, nur um wirtschaftliche Randbedingungen zu erfüllen. Mir hat das das Bewusstsein gebracht, dass ich immer zurechtkommen werde.

Aber du hast die Gruppe nach ein paar Jahren verlassen. Wie kam es dazu?

Ich bin mit der Gruppe nach zwei Jahren in Togo weiter nach Bulgarien umgezogen, wo wir als Selbstversorger gelebt haben. Wir waren 28 Erwachsene und da gibt es natürlich Prozesse und Gruppendynamiken und ich hatte nach vier Jahren das Gefühl, dass ich wieder etwas Eigenes machen muss, dass es mir zu eng wird. Aber ich habe gespürt: Diese Art zu leben, als Selbstversorger, ist für mich genau das Richtige, naturnahes Leben und eingeschränkter Konsum.

Die Rückkehr nach Deutschland war sicher nicht einfach. Wie hast du das erlebt?

Die Erfahrung in Togo und Bulgarien hat mir Freiheit im persönlichen Handeln gebracht, denn als ich nach Deutschland zurückkam, war zwar klar, dass ich wieder Geld verdienen muss, aber ich wollte zunächst nicht ins Büro, denn ich hatte ja vier Jahre am Stück nur draußen verbracht. Also habe ich erst im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. In diesem Beruf konnte ich draußen sein und so viel verdienen wie ich brauchte, um leben zu können. Ich habe mich natürlich gefragt, was ich mache, wenn ich als Gartenbauer auf einen früheren Kunden treffe, aber dann habe ich mir gesagt, dass das bestimmt ein interessantes Gespräch wird und damit war es dann auch gut. Natürlich hat sich auch das Ego gemeldet und gefragt, ob ich wirklich als promovierter Naturwissenschaftler bei Leuten vor der Tür fegen kann. Die Antwort ist: „Ja, kann ich!“ Ich habe mit den Kunden immer wieder Gespräche geführt und Impulse gesetzt, welche kleinen Veränderungen möglich sind, um den Garten ökologisch sinnvoller zu gestalten. Insofern konnte ich auch hier etwas bewegen. Im Prinzip habe ich dabei nichts anderes gemacht als in der Beratung. Ich habe Einfluss genommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das in jedem Beruf möglich ist.

„Veränderung ist eine Frage der inneren Haltung. Ich muss mich frei machen von Standesdenken, von Zwängen und von dem was andere über mich denken mögen.“

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Aber es ist auch richtig, dass du nicht mit der Vorstellung nach Deutschland zurückgekehrt bist, ewig als Garten- und Landschaftsbauer zu arbeiten. Du wollest Selbstversorger werden. Wie hast du dieses Ziel weiterverfolgt?

Das stimmt, mein Ziel war in einer kleinen Gemeinschaft einen Selbstversorgerhof aufzubauen. Boris und Pialo, die ebenfalls Teil des Teams in Togo waren, haben damals entschieden mit mir nach Deutschland zu gehen und das Experiment Selbstversorgerhof mit aufzubauen.

So haben wir im April 2018 eine ehemalige Mühle in der Südpfalz nahe der französischen Grenze gekauft. Anfangs habe ich immer noch parallel im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. Irgendwann war ich soweit, dass ich die körperliche Arbeit gerne wieder mit einem Job kombinieren wollte, in dem ich meine anderen Fähigkeiten und Soft Skills einsetzen kann.

Ich wünschte mir ein wissenschaftsnahes Betätigungsfeld, bei dem es nicht darum geht, den Gewinn und Umsatz zu maximieren, sondern ein Themenfeld das einen Sinn für die Gesellschaft hat. So bin ich schließlich – nach über 6 Jahren Pause – wieder zur IT zurückgekehrt. In dieser Zeit hat sich natürlich technisch sehr viel getan, aber ich war schon bei IBM nicht der technische Experte, sondern eher der Stratege und habe gelernt mich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Ich muss bei der Arbeit die ich jetzt tue technisch nicht im Detail sein, sondern in erster Linie die Zusammenhänge und Konzepte verstehen. Meine Aufgabe ist das Innovationsmanagement. Das geht von der Akquise von Partnern und Forschungsgeldern über Projektdefinition bis hin zur strategischen Planung der Unternehmensziele. Zunächst einmal kein so großer Unterschied zum Bereich Beratung und Management, wie zuvor.

Aber heute arbeite ich für HeiGIT, ein gemeinnütziges Unternehmen, ein Start-Up, das von der Klaus-Tschira-Stiftung finanziert wird und an die Universität Heidelberg angegliedert ist. Hier werden Geoinformatiklösungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen generiert, die für humanitäre Organisationen von Nutzen sind, aber auch für Organisationen, die dem Klimawandel entgegenwirken. Um es einmal praktisch zu beschreiben: Wenn irgendwo eine humanitäre Katastrophe passiert, beispielsweise ein Erdbeben, dann unterstützen unsere Lösungen Hilfsorganisationen dabei, den Weg zu den Menschen zu finden, die Hilfe brauchen. Es geht aber auch um die Vorausplanung, also z.B. um die Frage wie viele Menschen in einem afrikanischen Land innerhalb von 60 Minuten eine Krankenstation erreichen können und wo bei einer Überflutung mit hoher Wahrscheinlichkeit die größten Lücken in der kritischen Infrastruktur entstehen. Alles Fragen, die mit Geoinformatik zu beantworten sind.

Mir macht diese Arbeit sehr viel Spaß, weil die Teams unglaublich motiviert sind. Jeder der sich in diesen Projekten engagiert hat den Willen etwas Sinnvolles zu tun. Mein Anspruch war immer, in der intensiven Zusammenarbeit mit Menschen Lösungen für Probleme zu finden. Das ist vielleicht das Verbindende zwischen meiner Karriere vor und nach dem Ausstieg.

Soft-Skills veralten nicht, habe ich festgestellt. Mir schwirrte eher der Kopf, weil ich es nicht mehr gewohnt war, viele Informationen in sehr kurzer Zeit zu verarbeiten. Aber daran habe ich mich schnell wieder gewöhnt. Ich habe heute eine 50-Prozent-Stelle. Das heißt ich arbeite von Montags bis Mittwochs im Unternehmen HeiGIT, so habe ich von Donnerstag bis Sonntag Zeit, mich auf unseren Selbstversorgerhof zu konzentrieren. Das fühlt sich für mich nach einer guten Teilung an.

Wie sieht euer Mühlenprojekt denn heute aus?

Außer den eingangs erwähnten Ziegen und Schafen haben wir Hühner, Laufenten, Gänse, Bienen und Anton, den Hofhund. Außer Anton sind alle Tiere von Nutzen für die Selbstversorgung. Die Ziegen produzieren Milch, die wir trinken und zur Herstellung von Frisch- und Hartkäse einsetzen. Auch die Schafe sind Milchtiere. Wir nutzen außerdem ihre Wolle zum düngen und mulchen im Garten. Wir haben die Vision sie auch einmal zu spinnen, aber dafür fehlt im Moment die Zeit. Die Hühner legen Eier, die Bienen schenken uns Honig. Die Laufente hält die Nacktschnecken vom Garten fern.

Der Hof ist nach Permakulturgesichtspunkten aufgebaut. Die Beete im Garten werden in jedem Jahr versetzt, damit sich ein Teil ausruhen kann, auf dem Klee wächst, der Stickstoff produziert. An der Stelle haben wir im nächsten Jahr wieder einen ausgeruhten Boden. Wir bauen viel Gemüse an, das eingekocht oder getrocknet wird. So verfügen wir auch im Winter über alles was wir brauchen. Wir bauen auf unserem Feld Kartoffeln, Mais, Bohnen und Getreide an.

Der ganze Hof hat vier Hektar, wovon nur ein kleiner Teil intensiv bewirtschaftet wird. Viel Land ist Weidefläche. Außerdem führt ein Bach und der Mühlgraben durch unser Grundstück. Es gibt naturbelassene Teile und einen Sumpf.

Auf unserer Streuobstwiese haben wir 20 Hochstammbäume zu 15 Obstbäumen aus altem Bestand gepflanzt. Das sind Apfelbäume, Birnen, Quitten, Pflaumen und Süßkirschen. Aus den Äpfeln machen wir Saft und dieses Jahr habe ich zum ersten Mal aus unserem Apfelwein Schnaps gebrannt, Pfälzer Calvados sozusagen.

Wie tastet ihr euch denn an die Selbstversorgung heran, oder habt ihr aus Bulgarien schon genug Erfahrung mitgebracht?

Wir haben in Bulgarien und Togo schon viel Erfahrung gesammelt, aber es gibt noch viel zu lernen und auszuprobieren. Wir experimentieren sehr viel und versuchen die Selbstversorgung immer ein Stück weiterzubringen. Es braucht Zeit und viel Geduld. Wir sprechen gerne mit alten Leuten, schauen Youtube-Videos etc. Was wir tun ist ja grundsätzlich nicht neu, unsere Großeltern haben das noch gemacht, aber vieles Wissen wir einfach nicht mehr.

Um ein Beispiel zu nennen: Wir hatten 6000 Quadratmeter, die mannshoch mit Adlerfarn bewachsen waren und somit unbrauchbar. Die Bauern aus der Umgebung waren sich einig, ebenso wie die Foren im Internet, dass man das nur wegbekommt, wenn man Gift ausbringt. Das war für uns natürlich keine Option. Einer der Alten hat uns dann den Tipp gegeben, das Feld regelmäßig zu mähen. Also sind wir zu viert mit der Handsense sieben Mal im Jahr über den Adlerfarn und haben ihn gesenst. Das haben wir zwei Jahre hintereinander gemacht. Damit haben wir ihn schon etwas geschwächt. Im Anschluss haben wir Mist auf dem Feld ausgebracht, um die Bodenkultur zu verändern und haben alles, vom Biobauern um die Ecke, einmal umpflügen lassen. Die Wurzeln haben wir herausgesammelt. Und siehe da: Jetzt ist das Ganze eine schöne Wiese die als Weide taugt. Das hat lange gedauert und viel Arbeit bedeutet, aber es hat geklappt. Alle unsere Flächen sind in den letzten 30 Jahren nicht bewirtschaftet worden und daher frei von Chemie. Wenn es nach uns geht, soll das auch so bleiben. Da um uns herum auch alle biologisch und kleinbäuerlich arbeiten, leben wir in unserem Mühlental eigentlich in einem Paradies.

Wir haben natürlich einen großen Luxus. Wir müssen nicht von dem leben, was wir anbauen. Wenn eine Ernte misslingt, wie z.B. im letzten verregneten Sommer die Tomaten, dann können wir Nahrungsmittel kaufen. Wir verhungern deshalb nicht. Es ist ein Experiment, das in erster Linie Spaß macht. Wir sind nicht so dogmatisch, dass wir sagen „wir essen nur das, was wir selbst angebaut haben“. Wenn ich im Winter Lust auf eine Bio-Orange habe, dann kaufe ich sie. Doch größtenteils leben wir von Obst, Gemüse oder Kartoffeln, kurzum von anderem, was wir selbst ernten.

Ihr seid jetzt auf der Suche nach neuen Mitgliedern für eure Selbstversorgergemeinschaft. Wen habt ihr euch denn vorgestellt?

Ja das stimmt. Boris und Pialo haben uns inzwischen verlassen, weil sie den Wunsch hatten, mit dem Segelboot eine Weltreise zu machen.

Wir haben von Anfang an das Ziel gehabt in einer kleinen Gruppe den Selbstversorgerhof zu betreiben, damit jeder seine Freiräume behält, man auch mal in Urlaub gehen oder über Nacht Freunde besuchen kann. Mit Tieren muss zumindest morgens und abends jemand da sein. Zu zweit würde das also nicht mehr gehen.

Daher ist unsere Idee, eine neue Gemeinschaft zu gründen, die gemeinsam das Projekt weiterentwickelt. Wir haben das Glück, dass wir noch ein zweites Haus auf dem Mühlengelände haben, das momentan leer steht, weil die Mieter ausgezogen sind. Wir haben also Wohnraum, den man entsprechend umgestalten kann, um weitere Mitglieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Platz wäre für 4 bis 5 Leute. Uns schwebt eine junge Familie vor und jemand mit etwas handwerklicher Erfahrung.

Wir suchen Menschen, die sich vorstellen können intensiv in die Selbstversorgung einzusteigen, die auch die Zeit, körperliche Fitness und Energie mitbringen dies umzusetzen, denn wir tun viel in Handarbeit und wenig mit Maschinen. Es gibt immer etwas zu tun, mit den Tieren, im Garten im Feld oder handwerklich. Das ist sehr vielseitig und macht Spaß. Wir sehen das nicht als Arbeit, sondern als unsere Art zu leben.

Ideen zur Fortentwicklung gibt es viele: Wir könnten zum Beispiel ein Wasserrad einbauen, um unseren eigenen Strom zu generieren. Wir könnten längerfristig einen Hofladen einrichten, in dem wir unsere Überschüsse verkaufen. Außerdem gibt es noch sehr viel brach liegende Wiesen in unserer direkten Umgebung. Da haben wir schon überlegt, Wasserbüffel anzuschaffen, dann könnten wir neben Ziegenkäse sogar Mozzarella herstellen!

Wir bauen auch gerade ein kleines Gästehaus am Bach, in das jemand einziehen kann, der für begrenzte Zeit in unserem Projekt arbeiten und sich zum Thema Selbstversorgung fit machen möchte.

Aber wir sind flexibel und gespannt welche Ideen die neuen Mitglieder mitbringenWir sind offen für neue Impulse. 

Wie sieht denn dein Tagesablauf im Moment aus?

Am Morgen versorge ich zuallererst die Tiere. Dann setze ich mich am Bach unter unsere drei großen, schönen Eichen und meditiere. Danach wird gefrühstückt und dann geht´s ins Home-Office an den Computer.

Auf diese Weise komme ich mit innerer Ruhe in den Tag und kann mich fragen, ob es für mich persönlich Dinge gibt, die anstehen. An meiner persönlichen Weiterentwicklung arbeite ich natürlich immer noch, das hört niemals auf. Über die Meditation kann ich mir Aspekte bewusst machen und schauen, wie ich diese im Alltag umsetzen kann. Nur so wird Veränderung tatsächlich sichtbar.

Du hast in deinem Selbstversorgerhof dein Herzensprojekt verwirklicht. Was möchtest du Menschen mitgeben, die sich in einer Lebenssituation gefangen fühlen, eigentlich aber etwas anderes wollen?

Mein Vorteil war, dass ich keine Zwänge hatte, ich hatte keine Kinder und keine wirtschaftlichen Verpflichtungen, das hat mir den Ausstieg natürlich leichter gemacht. Was jeder für sich selbst hinterfragen kann ist, wieviel Geld er wirklich braucht, um das Leben zu leben, das er wirklich leben will.

Viele Menschen versuchen den Lebensstandard den sie haben zu halten. Aber die Frage ist doch: Macht mich dieses Leben wirklich glücklich? Die Frage die für mich zentral war lautete: „Worauf kann ich verzichten, wenn ich dafür etwas anderes bekomme?“

Ich habe auf Weinreisen früher gerne mal 1000 Euro ausgeben. Heute kaufe ich keinen Wein mehr. Gute Freunde bringen eine Flasche mit, wenn sie mich besuchen, weil sie wissen, dass ich es schätze. Mir macht es dann viel mehr Spaß diesen Wein gemeinsam zu trinken bei einem guten Essen oder am Lagerfeuer. Ansonsten trinke ich Wasser und Apfelsaft und habe nicht das Gefühl etwas zu vermissen.

Dadurch, dass ich auf vieles verzichten kann, habe ich einen viel geringeren Bedarf an Geld. Ich habe meinen Konsum eingeschränkt, ohne dass es mir weh tut. Dadurch kann ich mit einem 50-Prozent-Job gut leben. Für andere Menschen ist der Teilzeitjob vielleicht auch eine Alternative, weil dann mehr Zeit bleibt, um einer Beschäftigung nachzugehen, die dir wichtig ist und dich erfüllt.

Eine Variante die ich auch empfehlen kann ist die Auszeit. Möglichkeiten gibt es genug. Das Ziel ist immer das Gleiche: sich Freiräume zu schaffen. Das ist bei uns in Deutschland angstbesetzt, weil uns das Sicherheitsdenken anerzogen ist. Daher ist das oft ein langer Weg, den man auch stückweise gehen kann. So hat es für mich funktioniert, erst Auszeit,  dann der Ausstieg und jetzt reduzierte Arbeitszeit.

„Ich denke man muss willens sein, sich von altem zu trennen. Ich kann nicht alles behalten wollen was ich habe und trotzdem etwas Neues wollen. Ich muss bereit sein etwas aufzugeben, um offen zu sein für etwas Neues, auch wenn das manchmal weh tut.“

Bei meinem ersten Sabbatical haben mir Kollegen und Peers abgeraten. Das sei ein Karriere-Killer, haben sie vorausgesagt. Aber es hat mir nicht geschadet, denn auch durch meine Erfahrungen auf Reisen in Afrika habe ich mich weiterentwickelt. Ich weiß heute beispielsweise mit Krisensituationen viel besser umzugehen. Denn „Krise“ hat für mich inzwischen eine andere Bedeutung. Selbst wenn ich im Job eine Fehlentscheidung treffe, dann stirbt niemand. So kann ich mich in diesen Situationen viel ruhiger und menschlicher verhalten.

Auf welche deiner Eigenschaften konntest du dich im Laufe dieses Prozesses verlassen?

Ich freue mich immer über neue Erfahrungen. Ich habe mir die kindliche Neugier erhalten, das ist sicher ein Punkt. Mir war auch immer klar, dass ich zurechtkomme. Ich habe dieses Bewusstsein, dass ich mich selbst über Wasser halten kann.

Als Garten- und Landschaftsbauer beispielsweise war ich ungelernte Kraft. Da habe ich 12,50 Euro/Stunde verdient. Jobs, mit denen man nicht auf das Sozialsystem angewiesen ist, lassen sich immer finden, sofern man gesund und leistungsfähig ist. Gleichzeitig weiß ich, dass ich mir nicht zu schade dafür bin einen Job zu machen, der nicht auf dem gleichen Niveau ist wie der, den ich einmal hatte. Ich bin der Überzeugung, dass jede Arbeit ihren Wert hat.

Du musst an dir und deiner Umgebung arbeiten wollen, um etwas voran zu bringen bzw. eine Veränderung hervorzurufen. Dazu gehört Mut, denn du musst Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Was daraus erwächst ist oft ungewiss. Vertrauen in sich selbst und das große Ganze ist hilfreich. Die Bereitschaft zu scheitern gehört auch dazu. Unsere Bienen sind ein Beispiel. Ich hatte mir ein Buch gekauft und danach bin ich vorgegangen. Die Bienenvölker sind leider gestorben. So haben wir uns einmal mehr Rat von außerhalb geholt, mit dem es jetzt hoffentlich besser klappt. Wichtig ist, sich von Fehlschlägen nicht entmutigen zu lassen, zu analysieren warum es schiefgegangen ist und daraus zu lernen. Und hinein zu fühlen, ob das Ziel das ich verfolge wirklich zum Projekt passt. Andernfalls muss ich mich von einer Idee auch verabschieden können.

Ich glaube nicht, dass es generell ein richtig oder falsch gibt, das muss jeder für sich herausfinden. Man muss aber eben die Bereitschaft haben sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Für mich ist das Wichtigste respektvoll miteinander umzugehen.

„Daher suchen wir jetzt auch nach Menschen für unser Projekt die offen sind und in Harmonie mit unserem Flecken Erde leben wollen.“

Verfolgst du mit deinem Selbstversorgerprojekt auch eine Art höheres Ziel?

Im Grunde möchte ich Menschen inspirieren, etwas in ihrem eigenen Leben zu ändern. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise wie wir heute leben, nicht langfristig tragfähig ist, weil wir über unsere Ressourcen leben. Die Lösung liegt sicher nicht darin, dass alle zu Selbstversorgern werden. Ich sage auch nicht, dass der Weg den wir gehen der einzig richtige ist. Er fühlt sich nur für mich gut an. Der Ansatz ist eher, bewusster mit der Natur umzugehen. Also: Wie kann ich mein Handeln verändern, damit es mehr in Einklang mit der Natur kommt?

Wenn jemand nach einem Besuch bei uns sein Verhalten anpasst, beispielsweise seinen CO2-Fußabdruck verkleinert, dann finde ich das super. Ich könnte mir auch vorstellen hier mit Kindern zu arbeiten, z.B. Wochenendfreizeiten mit Gruppen oder Familien. Es gibt viele spannende Möglichkeiten Menschen an das Leben im Einklang mit der Natur heranzuführen.

Die Natur ist für uns Menschen die Voraussetzung für ein lebenswertes Leben. Einige Wenige von uns könnten wahrscheinlich sogar in einer künstlichen Umgebung klarkommen, aber die Frage ist, ob das wirklich erstrebenswert ist.

Von der Politik würde ich mir wünschen, dass Entscheidungen nicht nur getroffen werden, sondern dass diesen Entscheidungen auch relevante Taten folgen. Aber mir ist auch klar, dass Politik immer Zwängen unterworfen ist. Außerdem kann Politik nur das umsetzen, was die Gesellschaft mitträgt. Daher ist unsere Gesellschaft zur Zeit sehr gefordert. Es kommt auf die Veränderungsbereitschaft und das Veränderungsbewusstsein jedes Einzelnen an. Wenn das angekommen ist, dann wird auch die Politik handeln.

Geduld ist nicht meine Stärke aber ich denke gesellschaftliche Änderungen lassen sich nicht erzwingen. Ich wage keine Prognose ob es uns gelingt die Schöpfung zu bewahren. Leider gibt es ja immer noch Menschen die Klimawandel und das Artensterben als Fakt nicht akzeptieren wollen und ich habe keine Idee mehr, wie man es ihnen erklären kann.

Ich bin aber trotzdem optimistisch, denn in meinem beruflichen Umfeld arbeite ich viel mit jungen Leuten zusammen, die in ihrem Handeln sehr konsequent sind und sich begeistert für die Umwelt einsetzen, angefangen vom Verzicht auf das Auto über die vegetarische oder vegane Lebensweise bis hin zur generellen Reduzierung von Konsum. Der Großteil der Gesellschaft hat das Problem sicher verstanden, weiß aber nicht, wie man darauf reagiert. Die Jugend hat hier große Einflussmöglichkeiten auf ihr direktes Umfeld.

In unserem Projekt ist es ähnlich. Die großen Räder sind für uns zu komplex, aber in unserem kleinen Radius können wir Menschen inspirieren, ihnen aufzeigen welche Möglichkeiten sie persönlich haben.

Stefan ich danke dir für diesen inspirierenden Austausch und wünsche euch, dass ihr Menschen findet, die euer Projekt bereichern.

Danke liebe Heike für die Gelegenheit, dies hier vorzustellen!

Wenn ihr euch für Stefans Projekt interessiert, dann empfehle ich euch seine Webseite Leben im Einklang mit der Natur

Anfragen bezüglich der Mitgliedschaft in der Selbstversorgergemeinschaft richtet ihr direkt an ihn per Mail: stefan@blackcontinent.de

Und wenn euch die Abenteuer interessieren, die Stefan und ich gemeinsam in Afrika und anderswo erlebt haben, dann könnt ihr gespannt sein auf mein Buch, das im Mai 2022 erscheinen wird. Alle aktuellen Infos dazu findet ihr auf meinem Instagram Autoren Account @heidimetzmeier und bald auch auf der Webseite https://heidimetzmeier.de

Im Gespräch mit: Lilli Mixich – über Freiheit

“Ich visualisiere meinen Glückspunkt – Das trägt mich zu diesem Ziel hin” 

Die Frau in bunten Kleidern und einem farbigen Zopf im weißblonden Haar fiel mir auf dem Festival für Afrika-Freunde sofort ins Auge. Eigentlich heißt sie Elisabeth Karolina Mixich und ist im tiefsten Bayern aufgewachsen. Schon in jungen Jahren selbstbewusst, hat sie sich nach dem Schlagervorbild ihrer Mutter, Lili Marleen, umbenannt. Den Nachnamen verdankt sie ihrem rumänischen Vater. Sie hat erst geheiratet, als es für Frauen möglich war, ihren eigenen Namen zu behalten. Während zahlreicher Besuche bei den Verwandten in Rumänien, kam sie mit dem „fahrenden Volk“ in Berührung, hat mit ihnen gerastet und am Feuer gesessen. Schon als Kind fand sie diese mobile Lebensweise im eigenen Fahrzeug faszinierend. Heute bereist sie als Frau alleine Afrika in ihrem 30 Jahre alten Toyota Land Cruiser. Als Social Media-Inspirer nimmt sie ihre Follower zu den einsamsten Plätzen und den wildesten Abenteuern mit.

Dein Pseudonym auf Facebook ist Lilli Pilli. Was hat es damit auf sich?

Ich bin Pharmazeutisch-Technische Assistentin (PTA) und habe gelernt Pillen zu drehen. In der Apotheke haben sie gesagt „Lilli Pilli, mach mal die Pillen!“ Als ich einen Facebook-Namen gesucht habe ist mir dieser alte Spitzname wieder eingefallen.

ELISABETH bedeutet übrigens „ich schwöre.“ Eine Elisabeth steht zu den Dingen die sie macht und übernimmt Verantwortung. KAROLINA bedeutet „die freie Frau“.  Ich finde interessant, wie der Name aufs Leben passt und auf das was einem wichtig ist. Bei mir jedenfalls ist der Name Programm.

Gab es ein Schlüsselerlebnis das dich zum Reisen gebracht hat?

Als ich meinen ersten Langzeitpartner Willi kennen gelernt habe, hatte dieser gerade eine Reise mit seinem VW-Käfer nach Venedig geplant und hat mich spontan eingeladen. Ich dachte „Bingo, das ist genau das Richtige!“ Vom Campingplatz aus habe ich über das Meer geschaut, diese Freiheit gespürt und gedacht: „Das ist das was ich will, das freie Leben, hinter den Horizont schauen! Ich will raus und wissen was hinter der nächsten Ecke kommt.“

Wie kommt es, dass du dich hauptsächlich in Afrika bewegst?

Willi und ich haben das Reisen zusammen entwickelt und entdeckt. Wir haben mehrere Afrika-Reisen unternommen und ich habe damals gefühlt: „Das ist mein Kontinent.“ Wir waren beide vom Afrika-Virus befallen. Es war wie „nach Hause kommen”. Die Schwarzafrikaner waren herzlich und humorvoll und ich habe mich angenommen gefühlt. Wir haben damals beschlossen „in den Sack“ zu hauen, alles aufzulösen, die Möbel unterzustellen und open-end zu reisen. Das war genau das, was ich schon immer wollte.

Hattest du nie Angst vor dem schwarzen Kontinent?

Ich bin neugierig und finde Ungewissheit spannend, solange sie mich nicht existenziell bedroht. Ich wollte z.B. auf der Michelin-Karte dort hin wo alle Wege aufhörten. Oder besser, wo inmitten des Urwalds im Zentrum des afrikanischen Kontinents ein kleines Stück Asphalt eingezeichnet war. Ich wollte wissen, warum in der Mitte von Nichts ein Stück Straße ist. Wir sind an dem Versuch allerdings gescheitert, weil wir in der Regenzeit unterwegs waren und die Pisten unpassierbar wurden.

Ich kenne aber auch den Kontrollverlust. Wir haben uns z.B. einmal in der Sahara verfahren und waren am „point of no return“, also an einem Ort (abseits der regulären Route) wo wir entscheiden mussten, ob wir umkehren oder weiterfahren – in der Hoffnung, die nächste Piste mit dem verbleibenden Sprit zu erreichen. Damals waren wir mit zwei Fahrzeugen unterwegs. Ich mit drei Männern. Und die Herren haben entschieden, dass wir weiterfahren. Da hatte ich tatsächlich Todesangst, weil ich das Gefühl hatte, dass die anderen über mein Leben entscheiden. In dem Moment hatte ich auch Angst vor der Ungewissheit. Es ist damals alles gut gegangen, wir haben die Haupt-Piste erreicht ohne Sprit von einem Fahrzeug ins andere umzupumpen, aber ich hatte die schlimmste Zeit meines Lebens.

Du hast in Südafrika gelebt, als Nelson Mandela zum Ministerpräsident gewählt wurde. Hast du diese Zeit als Moment der Befreiung für das Land erlebt?

Die Aufbruchsstimmung, die davon ausging, war in unserem Wohnviertel stark zu spüren, in Kaffees bei den Studenten und in den Theatern. In Downtown habe ich auf dem Weg zur Arbeit aber auch die Demonstrationen des ANC (African National Congress) miterlebt und wie mit Tränengas und Schusswaffen gegen die Demonstranten vorgegangen wurde.

Ich fand gut was damals passiert ist und habe mich selbst auch nie bedroht gefühlt. Wir sind den Menschen respektvoll begegnet und freundlich, daher hatte ich nie Grund  Angst zu haben. Vielleicht lag das auch daran, dass ich mich automatisch den Menschen angeschlossen habe die in dieser Zeit in Aufbruchsstimmung waren. Es gab unglaublich viel positive Energie und ein großes Potenzial. Da war so etwas wie eine Energie-Potenzierung spürbar, die fast größer war, als die Ereignisse selbst. Im englischen sagt man Vibes – Schwingungen. Ich finde das trifft es. Ich fand sehr spannend diesen Umbruch persönlich mitzuerleben.

Interessant fand ich auch, was damals in den Beziehungen zu den Nachbarländern passiert ist. Das rassistische Südafrika hatte bislang isoliert am Kap gelegen, weil niemand etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Jetzt, nach dem Regierungswechsel wollten die Nachbarländer am Aufschwung partizipieren. Aber die Träger der Wirtschaftskraft, die ja immer noch hauptsächlich weiß waren, trauten sich nicht sich zu öffnen. Das war ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas.

Wenn ich jetzt durch Afrika fahre spüre ich manchmal noch diese Aufbruchsstimmung von damals, allerdings sind auch viele Entwicklungen ausgebremst worden. Was ich beobachte ist, dass durch die Erteilung der Berechtigung auf Ämter und Positionen in der Industrie – dem sogenannten Entitlement per Quote – viele Südafrikaner in Positionen kommen, für die sie weder eine Qualifikation noch ein echtes inhaltliches Interesse haben. Das hat der Entwicklung des Landes eher geschadet.

Zurück in Deutschland hast du mit deinem zweiten Partner zusammen den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Was war euer Erfolgskonzept?

Wir hatten beide sehr gute Reiseerfahrung und er konnte diese handwerklich umsetzen. Außerdem hatten wir eine Werkhalle und das Werkzeug. Das war im Grunde genommen das Startkapital für unser Business. Wir haben in der Selbstständigkeit aus unseren Begabungen ein Geschäft gemacht und so Alu-Star gegründet. Zunächst haben wir kleinere Geländewagen ausgebaut und dann große LKW zu Expeditionsmobilen umgebaut. Das hat eingeschlagen und war sehr erfolgreich. Warum? Weil wir mit unserer Erfahrung die Träume anderer Menschen zu Realität werden ließen. Menschen haben unsere Philosophie mitgekauft. Was ich daraus gelernt habe ist:

“Jeder der die Fähigkeit hat – aufgrund von Erfahrung und weil er etwas gerne tut – die Ideen, Wünsche und Vorstellungen anderer Leute aufzugreifen und zu realisieren, hat ein funktionierendes Geschäftsmodell. Wer anderen hilft, ihre Ideen zum Leben zu erwecken, der kann damit Geld verdienen.” – Lilli Mixich

Mit den LKW sind wir mit unserem Business allerdings in die Hochpreisschiene gerutscht und damit begann für uns das Problem, denn wir hatten Kunden mit viel Geld, die dachten sie kaufen nicht nur das perfekte Fahrzeug, sondern sie kaufen auch uns. Wenn sie unterwegs Probleme hatten, wollten sie uns einfliegen, statt ihr Fahrzeug selbst zu beherrschen. Wir mussten also viel von unserer Kraft, eigenen Energie und unserer Lebenszeit geben. Und dafür war uns das Leben dann doch zu kurz. Daher sind wir an dem Punkt als wir uns eigentlich hätten vergrößern müssen, mit 45 Jahren, ausgestiegen und waren danach 10 Jahre lang in der Welt unterwegs. Mit meinem zweiten Partner habe ich das Langzeitreisen perfektioniert.

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In deiner Lebensmitte kam die Krise und du hast sie als Chance zur persönlichen Freiheit genutzt. Wie kam es dazu?

Unsere Ehe scheiterte letztlich an sich ändernden Lebensvorstellungen. So haben wir uns schließlich getrennt. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass ich mit 55 Jahren alleine und mit wenig Geld dastehen würde. Ich hatte immer Ideen für uns beide gehabt oder für andere Leute. Jetzt stand ich vor der Situation dass ich mir zum ersten Mal für mich selbst überlegen musste was ich jetzt mache. Ich wusste nicht was ich kann und wozu ich fähig bin. Darüber hatte ich nie nachgedacht. In Konstellation mit anderen hatte ich bisher immer meine Talente eingebracht, aber ich war mir dieser Talente einfach nicht bewusst.

Jetzt wäre es natürlich eine Alternative gewesen wieder als PTA zu arbeiten. Zehn Jahre bis zur Rente. Dann verdienst du was, aber du musst da leben, wo du einen Job bekommst, ohne soziales Umfeld und kannst gerade deine Rechnungen bezahlen. Und an der Rente, bei der ich sowieso so große Lücken habe durch die Reisen, hätte sich kaum etwas geändert. Da dachte ich: “Nein, dann kannst du dich gleich erschießen!” Ich war 10 Jahre unabhängig unterwegs. Einen Job als Angestellte konnte ich mir nicht mehr vorstellen.

Also habe ich einen neuen Plan gemacht. Dabei war mein Motto: 1. „start where you are – beginne dort wo du bist.“  Wir hatten drei Autos auf drei Kontinenten. Das in Australien haben wir verkauft. Mein Partner hat das in Europa behalten und ich habe den Toyota Land Cruiser in Afrika übernommen. Der 2. Schritt war „use what you have – nutze was du zur Verfügung hast.“ Also war klar, ich mache meine Reisen jetzt in Afrika mit dem Toyota. Hier hat mir geholfen, dass ich einen sehr starken Willen habe. Und schließlich 3. „do what you can – tu was du kannst.“ Ich hatte immer Angst vor allem technischen und fahrtechnischen. Und ich war gut im Verdrängen. Aber dem Auto muss es gut gehen, denn das ist mein Vehikel für meine persönliche Freiheit. Also habe ich irgendwann die volle Verantwortung dafür übernommen und bin vorausschauender geworden. Das heißt nicht, dass ich jetzt Automechanikerin bin, ich mache mir nicht so gerne die Finger dreckig. Aber ich sorge dafür, dass der Wagen gut gewartet und in gutem technischen Zustand ist, so dass ich auch in abgelegene Gebiete fahren kann, ohne nochmal einen Kontrollverlust erleben zu müssen.

Die andere Seite ist: Das Poppo-Feeling das es braucht, um durch Sand oder Schlamm zu fahren, musst du selbst erleben, das kann dir niemand beibringen. Ich habe das mit 55 Jahren gelernt, weil ich jetzt auf dem Fahrersitz saß und selber stecken geblieben bin. Zu zweit ist das etwas anderes, weil man sich mental stützen kann. Ist ein Mann dabei, ist der meist kräftiger und kann anders agieren. Aber ich kann nicht bei 45 Grad ein Auto ausbuddeln. Also habe ich Angst davor, solche Strecken zu fahren. So bin ich gezwungen nach Lösungen zu suchen, z.B. indem ich mich für kurze Zeit einer Gruppe anschließe, um solche Strecken gemeinsam zu fahren.

“Wenn ich im Toyota sitze und das Steuer in der Hand halte bin ich an meinem Glückspunkt. Ich visualisiere das. Ich sehe die Landschaft vor mir. Meine mentale Stütze ist, dass ich das erreichen will. Und ich habe das Gefühl, dass diese Reisen mich und meine Persönlichkeit jetzt vervollständigen. Also kann ich nur vertrauen haben ins Leben und in die Menschen, die es gut mit mir meinen. Das trägt mich zu diesem Ziel hin.” – Lilli Mixich

Für viele Frauen ist die Börse ein Buch mit sieben Siegeln. Dein Finanzmodell war und ist auf Börsenkapital aufgebaut. Liebst du auch beim Thema Geld das Risiko?

Mein zweiter Partner und ich hatten über einen Finanzberater an der Börse spekuliert und dabei zwei Crashes miterlebt, den ersten bei 9/11 und den zweiten im Jahr 2008. Unser Kapital hat sich dadurch sehr reduziert und der Plan von den Zinsen zu leben hat natürlich nicht mehr funktioniert. Aber ich habe den Teil der für mich nach der Trennung übrig war wieder angelegt und dann unheimliches Glück gehabt.

Ich habe auch in Afrika mehrfach als Lodge Managerin gearbeitet und dabei genug Geld verdient, um weiter reisen zu können, ohne mein Kapital angreifen zu müssen.

Wenn ich irgendwo investieren will, dann schaue ich mir die Firma vorher an. Es gibt ja Kriterien nach denen man den Wert beurteilen kann. Das ist erlernbar. Meist beobachte ich die Firmen eine ganze Weile. Außerdem schaue ich, was für mich ethisch vertretbar ist. Goldminen oder seltene Erden sind z.B. etwas, worin ich niemals investieren würde, weil ich die Folgen davon in Afrika mitbekomme. Damit kann ich mich nicht identifizieren. Da ich aber aus der Pharmazie bin, investiere ich z.B. in Pharma-Werte. Ich investiere auch in Technologien der Zukunft oder Energien der Zukunft, Ideen die ich verstehen kann und an die ich glaube.

Für jemanden der nicht so gebunden sein will wie ich, für den ist der Kapitalmarkt perfekt, weil ich Geld einsetze, ohne viel dafür tun zu müssen. Wenn ich eine Immobilie hätte, dann müsste ich mich darum kümmern. Das lässt sich mit dem Reisen nur schwer vereinbaren. Ich hatte auch nie Versicherungen oder einen Sparvertrag, damit ich keine Fixkosten habe, die ich auch bedienen muss in Zeiten in denen ich nichts verdiene. Das lief allerdings eher unbewusst ab.

Du bist heute sehr erfolgreich auf Social Media aktiv. Welche Tipps hast du für Solo- und Kleinunternehmer die sich noch schwer tun?

Ich bin als Frau aus dem Schatten meines Mannes getreten, als wir uns getrennt haben. Zuvor hatte ich mich nie öffentlich gezeigt und mehr im Hintergrund gehalten. Als ich dann alleine war, war ich auf mich zurückgeworfen. Also musste ich erst einmal sehen  „Wer bin ich überhaupt?“ Einflüsse von außen haben mich darin bestärkt meinen Traum von Afrika zu leben und so habe ich auch angefangen, auf Social Media aktiv zu werden, mich zu zeigen. Zunächst erst wenig, über Facebook unter dem Pseudonym Lilli Pilli.

Am Anfang bestand meine „Community“ aus Menschen die ich kannte. Dann habe ich mich verbandelt mit Fotografen und anderen Globetrottern. Ich sehe meine „Timeline“ als Inspiration und deshalb verbinde ich mich auch mit Leuten, die mir diese Inspiration geben können.

Ich binde über meine Sichtbarkeit meine Follower ein in mein Leben. Manche sind dann so fasziniert von dem was ich tue, dass sie mir in schwierigen Situationen helfen, z.B. als ich neue Reifen brauchte. Da hat sich jemand angeboten Unterstützer zu finden, was auch geklappt hat. So werde ich dann auch in Orte eingeladen, in die man nicht so ohne weiteres kommt.

Ich finde es z.B. wichtig auf Facebook in Gruppen zu sein und sich dort auch zu engagieren. Inzwischen bin ich Mit-Administratorin für eine Gruppe deutschsprachiger Afrika-Reisender. Manche können sich in der Muttersprache doch besser verständlich machen. Und Ellen, ,eine andere allein reisende Frau, die ich in unterwegs in Afrika kennengelernt habe, hatte die Idee zu der Gruppe „Afrika auf eigene Faust“. Zusammen haben wir so viel Erfahrung und gute Kontakte, dass Gruppenmitglieder davon profitieren können.

Was bei mir auf Instagram am besten funktioniert sind Bilder von meinem archaisch anmutenden Auto und Aufnahmen von mir selbst. Ich finde ein Bild ohne persönliche Geschichte allerdings wertlos. Deshalb erzähle ich auf Instagram die Geschichte hinter dem Foto das ich poste, denn das bringt erst die Emotionalität. Das ist das, was die Leute mitnimmt. Ich klicke selbst bei den Accounts denen ich folge immer auf den Text, weil ich sehen will, was die Person zu dem Bild schreibt. Das macht die Aufnahme für mich erst spannend. Bilder ohne Text bekommen von mir keine Likes. Ich halte Geschichten zu erzählen (Storytelling) für ein sehr gutes Konzept, um Menschen auf sich aufmerksam zu machen.

Menschen kommen bei Instagram über die Hashtags auf dich, nicht über dein Profil. Daher ist es meiner Meinung nach auch wichtig so viele Hashtags wie möglich zu verwenden. Ich benutze immer die maximale Zahl von 30. Wenn mir Beiträge von anderen Menschen gefallen, dann fotografiere ich die Hashtags darunter ab und mache Recherche. Ich analysiere also z.B. wie viele Beiträge ein Hashtag schon hat. Gute Hashtags haben mehrere Tausend Beiträge. Bei Beiträgen im Millionen-Bereich wäge ich ab, ob ich sie benutze. Das kommt dann auf das Bild an. Ein Sonnenuntergang braucht nun mal den Hashtag “sunset”. Wichtig ist, dass die Hashtags zu dem passen, was ich mit dem Bild wirklich sagen will. Ich stelle damit auch eine Emotionalität her.

Ich habe Listen von Hashtags für verschiedene Szenarien die ich kontinuierlich benutze und immer wieder aktualisiere. Meine Kategorien sind: Auto, Landschaften, Wildlife und Selfies. Wenn es z.B. um das Auto geht, dann kommen Fahrzeug-spezifische Hashtags vor wie etwa “Toyota Land Cruiser” oder “4×4” oder “adventure”. Wenn ich auf dem Bild zu sehen bin, verwende ich z.B. “woman overlanding the world”.

Was ist dein Tipp für Menschen, die frei sein wollen so wie du, sich aber nicht trauen?

Ich bin ein Kontroll-Freak. Also habe ich mir zuerst den finanziellen Rahmen geschaffen, um meinen Traum zu verwirklichen, vor allem auch durch konsequentes Sparen. Ich pflege Minimalismus und überlege genau ob ich Dinge wirklich brauche. Vielleicht ist es hilfreich mit kleinen Schritten zu beginnen. Und dann kann ich empfehlen einen Termin zu setzen. Vieles ergibt sich auch einfach.

“Der Weg zeigt sich, wenn man ihn geht.”

Liebe Lilli, ich danke dir für dieses Gespräch!

Ja bitte, gerne!

Vorgestellt – Lilli Mixich

Auf den vom Elternhaus vorgegebenen Realschulabschluss folgte die Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen Assistentin. Das Abitur hat Lilli im Tageskolleg in drei Jahren später nachgeholt.  Sie hat in diversen Jobs in unterschiedlichen Ländern in Afrika gearbeitet. Mit ihrem Ehemann zusammen betrieb sie in Deutschland die Firma Alu-Star. Seit sie 55 Jahre alt ist, lebt sie ihren persönlichen Traum von einem freien selbstbestimmten Leben als Vollzeitnomadin.

Ihr könnt ihren Abenteuern folgen: Auf Instagram ist sie als @lillitogo zu finden, auf Facebook als @Lilli Pilli.

Dieses Interview ist Teil meiner Serie “Im Gespräch mit…” von und für Menschen die inspirieren, quer denken, vernetzen, verändern und eine positive Einstellung ins Leben tragen.

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Heike Specht