Im Gespräch mit Prof. Jean Nordmann über humanitäre Arbeit

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Geboren in La Chaux-de-Fonds, einer kleinen Stadt in der Schweiz, in den Bergen des Juras, verbrachte Jean Nordmann eine behütete Kindheit. Zum Skifahren musste er lediglich vor die Tür seines Elternhauses treten. Sein Vater besaß – sehr klassisch – eine Manufaktur für Schweizer Uhren. Er wuchs mit einer älteren Schwester auf, die ihm bereits im Alter von fünf Jahren das Lesen beibrachte.

Er studierte eine Mischung aus Medizin und Biologie. Ein Studiengang, der darauf  abzielte, junge Forscher auszubilden. Da er sich während des Studiums recht schnell langweilte, fragte er den Laborleiter einer bekannten Abteilung der Medizinischen Fakultät, ob er in einem der Teams seiner Abteilung arbeiten könne. So landete er in der Neurobiologie. Nach einer bemerkenswerten Karriere als Laborleiter und Professor beschloss er im Alter von 44 Jahren sein Institut zu verlassen, um sich der humanitären Arbeit zu widmen. Mehr als 20 Jahre lang arbeitete er als Delegierter und Missionsleiter für das Internationale Komitee des Roten Kreuz, für die UNO und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Er war in vielen afrikanischen Ländern sowie in Papua (Indonesien), Afghanistan und Ex-Jugoslawien stationiert. Heute betreibt er als Pensionär ein Bead & Breakfast in Basel. So haben wir uns kennengelernt. Ich verbrachte meinen Geburtstag bei ihm, den er in ein besonderes Erlebnis verwandelte.

Wir haben das Interview auf Englisch geführt, der Wissenschaftssprache die uns beide verbindet. Den Beitrag im Original kannst du dir als PDF hier ansehen.

ACHTUNG! Trigger-Warnung: Wir werden im Verlauf des Gesprächs mehrfach auf den Krieg zu sprechen kommen. Die Inhalte sind möglicherweise für sensible Menschen schwer zu verkraften.

Was haben Sie als Neurobiologe erforscht und hat es Sie fasziniert?

Wir wollten herausfinden, wie Nervenzellen miteinander und mit Zellen aus anderen Geweben kommunizieren. Man muss verstehen, dass die Menschen dazu neigen Wissenschaft in einem falschen Licht zu sehen. Neunundneunzig Prozent der Zeit macht man langweilige Arbeit, man muss ein Experiment immer und immer wieder wiederholen, und erst am Ende hat man das Vergnügen, die Daten zu analysieren. Erst dann wird die Arbeit wirklich interessant.

Ich hatte Glück, denn ich wurde schon in jungen Jahren zum Professor ernannt. Ich muss zugeben, dass ich liebte was ich tat, ich war praktisch mit meiner Forschung verheiratet. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Doktoranden zu unterrichten, was ich als sehr lohnend empfand, denn diese jungen Leute waren wirklich an der Wissenschaft interessiert.

Was haben Sie bei ihrer Arbeit über das menschliche Gehirn gelernt?

Neben schönen und erstaunlichen Dingen habe ich verstanden, dass die Menschheit trotz ihres Gedächtnisses nicht viel darüber lernt, wie man Gewalt vermeiden kann.

Obwohl Sie ein erfolgreicher Forscher waren, haben Sie mit Mitte vierzig beschlossen, die Wissenschaft zu verlassen. Warum das?

Anfangs hat mir niemand geglaubt, als ich sagte, ich würde aufhören. Aber nach 24 Jahren, in denen ich mehr oder weniger im Labor gelebt habe, wollte ich einen Teil meiner Jahre den Kindern widmen, die in kriegsgebeutelten Ländern aufwachsen. Aber der Witz ist, dass ich immer Wissenschaftler geblieben bin, denn wenn ich im Urlaub war, habe ich einen Freund in den USA besucht, um in seinem Labor zu arbeiten (oder zu spielen). Man hört nie auf etwas zu lernen! Ich lerne auch heute noch etwas über die Wissenschaft, auch wenn ich schon lange im Ruhestand bin. Ich bin immer noch von Kopf bis Fuß Wissenschaftler.

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Leitung eines Labors und der Rolle eines Missionsleiters?

Die Art und Weise wie man ein wissenschaftliches Projekt verteidigen muss, ist die gleiche wie die, seine Präsenz in einer Region zu verteidigen, wenn man es mit bewaffneten Soldaten oder dem Polizeichef oder dem Präsidenten zu tun hat. Man muss sein Denken erklären und überzeugende Argumente finden.

Was war Ihre Motivation, humanitäre Arbeit zu leisten, und warum haben Sie sich für Afghanistan und Afrika entschieden?

Am Anfang war die Hilfe für Kinder meine größte Motivation, aber im Laufe meiner Arbeit wurde mir klar, dass jeder froh ist, wenn ihm geholfen wird.

Ich habe mir meine Einsätze nie ausgesucht, sondern war immer bereit, dorthin zu gehen, wo die Organisation, für die ich arbeitete, mich hinschickte. Der Hauptunterschied zu anderen Orten ist der Krieg. In unseren Straßen gibt es keinen Krieg. Wenn man in einem Gebiet arbeitet, in dem Krieg herrscht, kann man nicht erwarten, dass man eine Entwicklung sieht, man muss schnell denken und handeln. Das entsprach meiner Arbeitsweise. Außerdem macht es mir nichts aus, unter Bedingungen zu leben, die sich von denen zu Hause unterscheiden, z.B. in Bezug auf die Wohnsituation oder das Essen.

Nomaden zogen trotz des Krieges mit ihren Tieren über das Land. Das Foto zeigt eine Nomadin aus der Provinz Badakhshan in Afghanistan (2003)

Wie hat Ihre Familie auf Ihre Ambitionen reagiert?

Meine Kinder waren bereits alt genug, um selbst an der Universität zu studieren. Sie verstanden meine Gründe für den Wechsel meines Berufsweges. Selbst meine Eltern, die anfangs nicht ganz begriffen, warum ich eine gut bezahlte Festanstellung aufgab, haben mich sehr unterstützt. Was mir sehr bald klar wurde war die Rolle der Medien bei Konflikten. Meine Mutter bewahrte alle lokalen Zeitungsartikel über die Kriege auf, in denen ich gewesen war, und ich war schockiert über das, was in diesen Artikeln stand. Die Hälfte davon stimmte aus meiner Sicht von den Fakten her nicht. Im Gegensatz zu dem, was meine Eltern in den Zeitungen lesen konnten, war unser Leben nicht jeden Tag gefährlich.

Was die Leute nicht wissen ist, dass selbst im Krieg nicht jede Sekunde gefährlich ist. Schwer zu verkraften ist hingegen, dass man nie weiß wann ein Angriff kommt oder ob er überhaupt stattfindet. Die Ungewissheit ist das Problem. Das heißt aber nicht, dass wir ständig unter Beschuss standen.

Wie haben Sie mit den Menschen in ihren Einsatzgebieten kommuniziert?

In Ländern, in denen ich die Sprache nicht beherrschte, hatte ich immer einen Dolmetscher. Das hat die Dinge manchmal komplizierter gemacht, denn wenn man zum Beispiel mit dem Anführer einer Rebellengruppe sprechen will, möchte man lieber mit dieser Person allein sein. Aber meine Erfahrungen mit den nationalen Mitarbeitern waren ausgezeichnet. Sie haben immer fantastische Arbeit geleistet. Ohne die nationalen Mitarbeiter könnten die humanitären Organisationen nicht arbeiten. Deshalb hätte es meiner Meinung nach keine Diskussion über den Abzug des einheimischen Personals aus Afghanistan geben dürfen. Sie hätten in unsere Länder geholt werden müssen. Ohne diese Menschen war unsere Arbeit nichts wert. Sie sind das Bindeglied zwischen den internationalen Organisationen, den NROs, den Behörden und der Bevölkerung.

Was waren Ihre Ziele bei der Arbeit in den Kriegsgebieten und was wollten Sie erreichen?

Wir hatten viele Ziele, z. B. Hilfe zu leisten für die Bevölkerung, Krankenhäuser, Kliniken und orthopädische Zentren. So haben wir zum Beispiel Menschen, die durch Landminen ein oder gar beide Gliedmaßen verloren haben, mit Prothesen versorgt. Wir haben auch Menschen geholfen, ihre Angehörigen zu finden, die sie im Krieg verloren hatten. Wir haben Gefangene besucht oder den Streitkräften das humanitäre Völkerrecht beigebracht und vieles mehr.

Werkstatt zur Herstellung von Prothesen. Hier aus Faizabad in Afghanistan (2004)

Es ist wichtig sich bewusst zu machen, dass alles was man tut letztendlich wenig ist. Als ich in der Wissenschaft gearbeitet habe, habe ich manchmal mit Elektronenmikroskopie gearbeitet. Bei allem was ich später tat stellte ich mir vor ich hätte ein Elektronenmikroskop, das die kleinen Dinge, die wir erreichten, zu etwas Großem machen würde! Weißt du, von außen betrachtet ist das was wir erreichen nichts, aber für die Menschen auf dem Land kann es eine ganze Menge sein. Ihr Lächeln ist für mich wichtig. Wir haben einmal ein Kind zu einer Mutter zurückgebracht, nachdem sie zwei Jahre voneinander getrennt waren. Beide dachten der andere sei umgekommen. Ihre Gesichter zu sehen, als sie wieder vereint waren, war eine große Freude für uns.

Wenn ein Dorf von bewaffneten Kämpfern angegriffen wird, flüchten die Menschen Hals über Kopf. Nicht selten werden dann Familien voneinander getrennt. Den internationalen Organisationen fällt die Aufgabe zu, diese versprengten Familienmitglieder wieder zu vereinen, wie hier in der östlichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo. Mutter und Sohn hatten sich zwei Jahre nicht gesehen und jeder dachte, der andere sei ums Leben gekommen (1996).

Wie haben Sie diese Ziele denn erreicht?

Ich habe gelernt, dass man extrem geduldig sein muss, damit Dinge in Gang kommen. Um seine Ziele zu erreichen, muss man die Menschen kennen lernen, man muss mit ihnen reden. Manchmal dauert es sehr lange, bis man die Erlaubnis erhält in einem bestimmten Territorium zu arbeiten. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ich die Geduld aufbringen musste drei Monate zu warten, bis ich mich mit den hohen Behörden des Landes treffen konnte. Von diesem Zeitpunkt an war alles ganz einfach.

Diese Frauen sind mit ihren Kindern aus ihrer Heimat in Süd-Darfur in dieses Flüchtlingscamp geflohen und warten nun auf Lebensmittel und andere Güter, um sich zu versorgen. Sie sitzen seit Stunden in der Sonne. (Nyala, 2005)
Dieser Junge aus dem südlichen Darfur nimmt Gelegenheitsjobs in Nyala an, um sich über Wasser zu halten, weil seine Eltern beide umgekommen sind (2005).
Diesem Mann aus Mauretanien rannen Tränen über die Wangen, weil er zum ersten Mal in seinem Leben keinen einzigen Tropfen Tee mehr besaß, den er den Gästen anbieten konnte. (Hode ich Chargui, 2008)

Lassen Sie uns näher auf Ihre Lehrtätigkeit im Bereich des humanitären Völkerrechts eingehen, die Sie zuvor erwähnt haben. Wie hat das funktioniert?

Weißt du, viele Soldaten haben keine Ahnung vom humanitären Völkerrecht. Ich hätte in die Hauptstädte einiger bekannter Länder gehen sollen! Nein im Ernst, selbst in der Schweizer Armee wird die Grundausbildung ohne jeden Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht durchgeführt. Und dabei wurde ein Teil davon bereits 1907 eingeführt. Dies konzentrierte sich auf die kämpfenden Soldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es durch Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung und der politischen Gefangenen ergänzt. Die Wahrheit ist jedoch, zumindest nach meiner Erfahrung, dass – selbst wenn die Menschen das Gesetz verstehen – kaum jemand diese Regeln befolgt. Schau dir nur den Vietnamkrieg an, oder das was jetzt in der Ukraine passiert, und du verstehst was ich meine.

Aber um es mal optimistisch auszudrücken: Manchmal funktioniert es! Bei einem Einsatz, zu dem ich abkommandiert wurde, änderten die kämpfenden Parteien ihr Verhalten völlig, nachdem sie etwas über das humanitäre Recht gelernt hatten, und sie betrachteten ihren Feind mit anderen Augen. Das war sehr interessant zu sehen.

Die größte Veränderung in den letzten 20 Jahren ist, dass die Taten nicht so schnell vergessen werden. Mit anderen Worten, es werden Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, was während des Krieges wirklich passiert ist.

Waren Sie jemals versucht aufzugeben?

Nein! Ich habe einen ziemlichen Dickschädel. Wenn ich etwas erreichen will, gehe ich bis zum Ende. Es gibt nichts Schöneres, als den Menschen eine Perspektive zu geben. Wenn eine Familie nichts zu essen hat, der Vater umgekommen ist und man ihnen helfen kann, so dass sie überleben, dann ist das sehr befriedigend. Ich habe Häftlinge besucht, denen aufgrund unserer Besuche versichert wurde, dass sie nicht verschwinden werden. Ich habe immer noch einen Brief aus dieser Zeit, in dem sich Gefangene bei uns bedanken und erklären, dass sie ohne unsere Unterstützung Selbstmord begangen hätten.

Was war Ihr schwierigster Einsatz?

Vielleicht der in Bosnien-Herzegowina, denn wie die Menschen in der Ukraine jetzt, fühlte es sich an als wären sie Cousins. Es war ein Krieg nebenan. Als ich dort hinkam und all diese Gefangenen sah, war ich an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Sie waren nur aus politischen Gründen eingesperrt worden. Erst waren die Kämpfenden Brüder und wurden plötzlich zu Feinden.

Für die Menschen dieser zerbombten Stadt in Ex-Jugoslawien wurde es zu einer der wichtigsten Aufgaben jeden Tag frisches Wasser zu holen. (1994)

Welche Eigenschaften sind für die humanitäre Arbeit wichtig?

Geduld und Beharrlichkeit sind meiner Meinung nach wichtig. Ich werde dir ein Beispiel geben: Ich habe in einer Region gearbeitet, in der wir für die Einreise ein Papier der Behörden benötigten. Es war schwierig diese Papiere zu bekommen. Der Kern des Problems war ein Wettbewerb zwischen zwei Ministern. Einer von ihnen bat mich irgendwann, in sein Büro zu kommen. Ich zog also meine Krawatte an und beeilte mich zu ihm zu kommen. Aber man ließ mich warten. Drei Stunden später ging sein Sekretär und ich fragte ihn, ob der Minister wisse, dass ich noch da sei. Er sagte, er nehme es an. Weitere zwei Stunden später verließ der Minister sein Büro und sah mich warten. Er fragte mich: “Was machen Sie hier?” und ich antwortete: “Nun, Sie haben mich für 12 Uhr einbestellt.” “Das habe ich völlig vergessen”, war seine ehrliche Antwort. Ich sagte ihm, dass ich dachte, er wolle ein Experiment durchführen, um zu sehen, ob weiße Menschen aus Europa das sehr heiße Klima fünf Stunden lang aushalten können, ohne zu trinken. Kurze Zeit später wurde ich nicht nur mit Essen und Trinken versorgt, sondern auch mit einem Papier, das uns erlaubte, in der oben genannten Region zu arbeiten. Wir waren die einzigen die jemals ein solches Papier erhalten haben und ich bin sicher, es lag nur daran, dass ich fünf Stunden lang gewartet hatte.

Persönlicher Kontakt, um Vertrauen aufzubauen, ist eine weitere hilfreiche Sache. In Afrika gibt es oft Kontrollpunkte, die von Kindersoldaten bewacht werden. Als Missionsleiter habe ich vor Ort immer mit diesen Kindern gesprochen. Ich habe mir die Zeit genommen ein richtiges Gespräch zu führen. Nach einer Weile kannten sie uns. Weil sie uns kannten und uns vertrauten, konnten wir jeden Kontrollpunkt passieren. Einmal rief mich der Präsident an, um mir mitzuteilen, dass einige seiner Leute von den Rebellen freigelassen worden waren. Sein Problem war, dass er niemanden schicken konnte, um sie zu holen, denn wir waren die Einzigen, die dieses Gebiet betreten durften. Wir nahmen also unsere drei Autos, um die Leute abzuholen. Wir passierten alle Kontrollpunkte ohne Probleme, denn die Kindersoldaten kannten uns aufgrund unserer zahlreichen vorherigen Gespräche.

Besser zu dritt auf dem Fahrrad als alleine zu Fuß. Soldaten der östlichen Provinz der Demokratischen Republik Kongo. (2010)
Freiheitskämpfer aus Süd-Darfur (Sudan, 2005)

Wie verarbeiten Sie das, was sie gesehen und erlebt haben?

Während des Einsatzes hatte ich nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Es kam erst alles zurück, als ich nach 22 Jahren aufhörte mit der humanitären Arbeit. Ich sah Weinende, Tote, Massengräber, Eingeweide von Menschen, die als Seile für Kontrollpunkte verwendet wurden und vieles mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals damit fertig werde.

Welchen Rat geben Sie jungen Menschen, die in Ihre Fußstapfen treten wollen?

Es ist ein Unterschied ob ich 25 oder 55 bin, wenn ich für eine humanitäre Organisation arbeite. In höherem Alter ist man vielleicht eher in der Lage Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann. Außerdem ist es wahrscheinlicher, dass man als Autorität akzeptiert wird.

Was ich jungen Menschen normalerweise sage, ist folgendes: Arbeitet zuerst in eurem eigenen Land, und geht dann in die schwierigen Länder. Und bleibt nicht zu lange an einem Ort. Wenn ihr das tut, besteht die Gefahr, dass ihr nie wieder weggeht. Wechselt also euren Einsatzort.

Wenn man sich aktiv für Hilfsbedürftige einsetzen möchte, sind NGOs dann ein guter Ausgangspunkt?

Das erste was ich immer dazu sage ist, dass es in unseren eigenen Ländern viel zu tun gibt. Bei uns leben Menschen auf der Straße, es gibt Kinder die nicht gut versorgt sind, es gibt viele alte Menschen die Hilfe brauchen, und natürlich haben wir Flüchtlinge. Man muss also nicht nach Afghanistan oder Afrika gehen, um zu helfen.

Sie haben ein Buch mit dem Titel “Beauty in Bitterness” veröffentlicht. Es enthält Bilder, die Sie bei Ihren Einsätzen gemacht haben, um sie Ihrer Familie zu zeigen. Wie ist aus der Sammlung ein Fotobuch geworden?

Eine Dame, die sich in der Basler Kultur engagiert, sah meine Bilder und überzeugte mich, sie der Öffentlichkeit zu zeigen. Es gelang ihr eine Ausstellung zu organisieren. Ich stellte die Bilder zur Verfügung und schrieb kurze Texte über die Geschichten der Menschen auf den Bildern. Nach der Ausstellung beschlossen wir, daraus ein Buch zu machen. Ich fand es interessant zu sehen, dass die Leute die Bilder schön fanden, bis sie den Text darunter lasen und so die Umstände erfuhren. Einige von ihnen fingen an zu weinen, als sie erkannten, welche Geschichte sich hinter dem Foto verbirgt.

Ich habe jedoch mit der Zeit verstanden, dass die Menschen schnell vergessen, weil sie es müssen. Wir können nicht ewig mit einer so harten Wahrheit leben. So war es auch, als ich nach dem Ende eines Einsatzes meine Geschichten erzählte. Freunde luden mich ein, um von meiner Arbeit zu hören, aber nach fünf Minuten ging das Gespräch zu sanfteren Themen über. Ich kann niemandem die Schuld dafür geben, aber das passiert uns allen, die in der humanitären Arbeit tätig sind. Es ist zu schwierig sich das anzuhören, weil es in erster Linie sehr schmerzhaft ist und weil die Menschen vielleicht erkennen, dass sie ein viel besseres Leben führen als Menschen in anderen Teilen der Welt. Sie fühlen sich dem gegenüber hilflos. Wir ziehen es vor zu vergessen, oder wir fragen nicht, weil wir Angst vor den Antworten haben.

Sind Sie heute eher optimistisch oder pessimistisch, was die Lage der Nationen angeht?

Eine Medaille hat immer zwei Seiten. Ich betreibe jetzt ein Bed & Breakfast und treffe viele junge Leute die wunderbare Dinge tun. Wenn ich hingegen morgens in die Zeitung schaue, nichts als schlechte Nachrichten, keine positiven Geschichten!

Ich freue mich, dass es in der Schweiz eine große Welle der Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge gibt. Aber seien wir ehrlich, sie haben glattes blondes Haar und einen hellen Hautton. Ich stelle jedoch fest, dass die Menschen langsam erkennen, dass wir einen Unterschied machen, je nachdem wo ein Flüchtling herkommt. Ich hoffe, dass wir bald auch Flüchtlingen aus anderen Teilen der Welt offener gegenüberstehen.

Sie verwenden Ihre Einnahmen aus dem B&B und sammeln Spenden, um verschiedene Projekte in der ganzen Welt zu unterstützen.  Mögen Sie uns diese Projekte vorstellen?

Ja, natürlich! Ich beschreibe sie am Besten der Reihe nach:

  1. Eine Schule für AIDS-Waisen im Busch von Zentralafrika, die zum Teil mit dem Geld des B&B gebaut wurde, wird weiter von uns unterstützt.
  2. Eine Familie in Afrika mit zwei eigenen Jungen hat sechs Waisenkinder adoptiert. Außerdem beherbergt sie eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die ihr Dorf verlassen hat, nachdem ihr Mann ermordet wurde. Trotz eines Gehalts haben sie nicht genug, um diese große Anzahl von Menschen zu unterstützen. Wir versuchen daher, ihnen zu helfen.
  3. Wir finanzieren ein kleines Projekt, das es einem Jugendlichen ermöglicht, eine neue Beinprothese zu bekommen, nachdem auf ihn geschossen worden war. Er lebt in einem Dorf in einer Region, in der Boko Haram aktiv ist. Mit den Spendengeldern werden seine medizinische Behandlung und das Schulgeld bezahlt. Er ist inzwischen Klassenbester, muss aber alle zwei Jahre eine neue Prothese bekommen.
  4. Wir unterstützen die kleine Angel, die in den Slums von Kenia lebt, damit sie medizinisch versorgt werden kann. Sie wurde ausgesetzt als sie nur ein paar Stunden alt war. Anita fand sie und adoptierte sie. Dann zerstörte ein Feuer ihr Zuhause. Zu allem Überfluss wurde bei Angel wenige Monate nach ihrer Geburt eine autistische Störung diagnostiziert. Jetzt beginnt sie zu laufen und zu sprechen. Sie liebt es zu singen.
  5. Wir zahlen darüber hinaus die Studiengebühren für ein brillantes junges Mädchen in Polen (die Tochter eines erstaunlich sachkundigen Führers, den wir in Auschwitz kennengelernt haben) und für ihren Bruder sowie für die Tochter eines Kollegen von mir, der in Mostar (Bosnien) lebt und mit mir während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zusammengearbeitet hat.

Diese Kosten belaufen sich in Summe auf 46.000 Euro pro Jahr.

Wie können die Menschen Ihre Wohltätigkeitsorganisation unterstützen?

Zunächst einmal möchte ich Folgendes sagen: Es stimmt, dass bei Nichtregierungsorganisationen eine große Lücke klafft, zwischen den Spendensummen und dem, was wirklich bei den Menschen ankommt. Aber ich bestehe darauf, dass wir internationalen Organisationen und NGOs helfen sollten.

In meinem Fall sind die Projekte viel kleiner. Ich habe die Familien ausgewählt, weil ich sie kenne. Sie sind also die Glücklichen. Ich weiß, dass es Millionen von anderen gibt, die nicht unterstützt werden. Man kann also über diesen Ansatz diskutieren, aber was die Spender an unseren Projekten schätzen ist, dass sie über eines sicher sein können: 100 Prozent der Gelder kommt bei den Bedürftigen an.

Wenn sich deine Leser direkt engagieren wollen, hier sind die Details für das Spendenkonto:

Bank Account
School Africa
Jean Nordmann
Hebelstrasse 85
4056 Basel

IBAN: CH81 0840 1000 0543 5183 9
SWIFT: MIGRCHZZ80A
Migros Bank AG
Aeschenvorstadt 72
4051 Basel, Schweiz
Clearing: 8401

Haben Sie noch eine Botschaft an meine Blogleser zum Abschluss?

Ich gebe eigentlich nicht so gerne Ratschläge. Ich hätte nie gedacht, welch großen Einfluss die Geschichte meines Lebens auf andere Menschen hat. Sie finden es erstaunlich, dass ich meine Arbeit als Professor und in der Forschung – die ich geliebt habe – aufgeben konnte, um humanitäre Arbeit in kriegsgebeutelten Ländern zu leisten. Manche Leute kommen also zu mir und bitten mich um Rat, wie sie ihr Leben leben sollen.

Mein Rat ist dieser: Solange du niemanden verletzt, tue was du willst! Und zweitens: Man muss nicht nach Afrika gehen, um etwas zu bewirken. Wir brauchen auch in unserer Gesellschaft Menschen die helfen.

Danke, dass Sie Ihre Geschichte mit uns geteilt haben Jean. Es bedeutet mir sehr viel!

Mein heutiger Interviewpartner war:

Jean Nordmann (geb. 1948) – Studium und Promotion in Neurobiologie in Genf, Schweiz, Postdoktorat in Cambridge und Göttingen. Trat 1992 als Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique in Frankreich zurück, um für internationale Organisationen und NGOs zu arbeiten. Er lebt heute in Basel. 

Wenn du Jean direkt kontaktieren möchtest,
schreib ihm eine E-Mail an: nordmannjj@yahoo.fr
Er ist auch per Telefon zu erreichen: (+41) 061 321 93 42

Jeans Buch “Beauty in Bitterness” gibt es im Handel leider nicht mehr, er verschickt auf Anfrage das PDF dazu aber gerne gegen eine kleine Gebühr. Die Aufnahmen in diesem Interview stammen alle aus diesem Bildband. Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Fotografen. Anfragen bitte direkt an Jean Nordmann.

Zum Schluss noch dies: Ich führe die Interviews im Rahmen der Gesprächsreihe mit großer Leidenschaft und stecke viel Energie hinein, weil es mir wichtig ist, dass Menschen die sich für die Gesellschaft engagieren, eine Stimme bekommen. Wenn du jemanden kennst, der hier unbedingt zu Wort kommen sollte, dann freue ich mich über deinen Hinweis.

Im Gespräch mit Dr. Stefan Gumbrich über Leben im Einklang mit der Natur

Mein Gesprächsgast wählt sich gut gelaunt in Zoom ein, denn gerade wurden auf seinen Wiesen zwei Ziegen geboren. Stefan Gumbrich hat in der Südpfalz mit seiner Partnerin Betti und einem befreundeten Paar einen Selbstversorgerhof aufgebaut und hat sich damit einem Lebenstraum erfüllt. Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg.

Er wurde an der Fachhochschule in Bingen zum Ingenieurinformatiker ausgebildet, schloss in Paderborn ein Informatikstudium an und stieg bei IBM ein, wo er in den ersten Jahren berufsbegleitend seine Promotion absolvierte. Er war für den IT-Konzern 2o Jahre lang in der Unternehmensberatung als Führungskraft tätig, bevor er im Spätsommer 2013 ausschied. Wie es zu diesem Einschnitt kam, welchen Weg er danach nahm, was er dabei über sich und das Leben gelernt hat und warum er jetzt auf der Suche nach Menschen ist, die sich in sein Selbstversorgerprojekt einbringen  – darüber wollen wir reden. 

Stefan nimm uns doch mal mit in die Erfahrung die du gerade gemacht hast. Du sagst eure Ziegen haben Babys geboren?

Ja, insgesamt kamen in den letzten Tagen 6 Schaflämmer und 3 Zicklein zur Welt. Die beiden Ziegenmütter haben zum ersten Mal geboren, das ist immer ein bisschen aufregend: achtgeben, ob es Komplikationen bei der Geburt gibt; aufpassen, dass die Nachgeburt vollständig rauskommt; helfen wo nötig, aber auch nicht zu viel stören, da es sonst sein kann,  dass sie die Babys nicht annehmen. Ich schaue auch, ob sie Milch haben und die Kleinen trinken. Es hat diesmal  alles sehr gut funktioniert.

Ich habe die Ziegenmutter mit ihren zwei Babys, die vor zwei Stunden geboren wurden, gerade noch separiert. Sie sind jetzt in einen Raum im Stall, in dem sie sich ungestört aneinander gewöhnen können und sich nicht verlieren.

Dabei habe ich festgestellt, dass die Mutter einen zu dicken Euter hat, an dem die Babys bisher noch nicht richtig saugen können. Ich hoffe jetzt dass sie es schaffen. Ich gehe nachher nochmal kontrollieren. Wenn es nicht klappt ist die Alternative Sie mit der Flasche zu füttern. Dann muss ich alle zwei Stunden raus – auch nachts. Ich hoffe also, dass es nicht soweit kommt!

Die kleinen Ziegen sehen schon sehr erwachsen aus. Woher wusstest du denn, dass es heute soweit ist?

Sofort nach der Geburt versuchen die kleinen Ziegen aufzustehen und nach zwei Stunden können sie bereits gut laufen.
Ich beobachte die Muttertiere genau und so wusste ich, dass die Geburt heute passiert. Das gibt mir ein ganz warmes Gefühl. Das ist das Schöne am Selbstversorgerprojekt: Du bekommst den gesamten Kreislauf mit von der Schwangerschaft, über die Geburt, das Leben bis hin zum Tod.

Wenn das Neugeborene ein Böckchen ist, weißt du, dass du es leider schon in einem Jahr loslassen musst. Ich versuche es dann an einen anderen Hof zur Zucht abzugeben. Wenn das aber nicht klappt, muss ich es schlachten, denn für eine separate Bockherde ist unsere Herde zu klein und wenn ich die Böcke bei den Muttertieren lasse decken die Böcke ihre eigene Mutter und ihre Schwestern, was für die Zucht schlecht ist.

Wie geht es dir damit, wenn du eine Ziege die du zur Welt gebracht hast schlachten musst?

Das fällt mir sehr schwer, weil ich diese Tiere jeden Tag sehe, pflege, streichele, liebgewonnen habe. Ich mache das auch nur zu einem Zeitpunkt den ich als passend empfinde; an einem Tag an dem ich ausgeglichen und ruhig bin. Die Energie muss passen. Für mich ist das eine Handlung, bei der ich sehr behutsam mit dem Tier umgehe. Trotzdem töte ich es, daran werde ich mich nie gewöhnen. Aber die Alternative würde es nur mir leichter machen. Wenn ich das Tier in einen Anhänger verlade und zu jemandem hinbringe der es tötet, ist das für das Tier viel unangenehmer, weil es beim Transport Stress empfindet, an einen Ort gebracht wird den es nicht kennt. Daher töte ich die Ziege selbst, aus Respekt vor diesem Tier, auch wenn ich mich gerne davor drücken würde.

Bis zu diesem Punkt in deinem Leben war es ein weiter Weg. Nimm uns doch mal ein Stück mit in deine Vergangenheit.

Ich hatte eine schöne Kindheit, bin in behüteten Verhältnissen in einem kleinen Ort in Rheinhessen aufgewachsen. Ich bin sehr dankbar dafür, wie ich aufgewachsen bin, denn ich hatte alle Möglichkeiten. Das was ich heute tue ist ein Ergebnis des Lebenswegs den ich gehen konnte. Ich bin hervorragend ausgebildet, habe viel Geld verdienst, war erfolgreich in Unternehmensberatung und Management und haben dann festgestellt, dass das nicht alles ist. Die Wahl zu haben so weiterzumachen und Wohlstand anzuhäufen, oder den Lebensweg zu wählen, den ich jetzt gehe, empfinde ich als ein unglaubliches Privileg.

Was war denn der Auslöser für den Wandel?

Meine Triebfeder im Leben ist, dass das was ich tue spannend sein muss und mich fordert.

Ich hatte in der Unternehmensberatung bei IBM irgendwann das Gefühl, dass mich das nicht mehr weiterbringt. Ich hatte so viel Erfahrung in verschiedenen Projekten gesammelt, unterschiedlichste Methoden kennengelernt, und mich dabei auch immer wieder auf die unterschiedlichsten Menschen eingelassen. Neue Projekte konnten mich einfach nicht mehr herausfordern. Es hat sich auch kein WOW!-Gefühl mehr eingestellt, wenn ein Projekt erfolgreich, oder ein neuer Vertrag abgeschlossen war. Damit war für mich der Reiz weg und es musste etwas Neues kommen.

Der logische Schritt wäre gewesen das Unternehmen zu wechseln, eine Stufe höher zu steigen und mehr Geld zu verdienen – diverse Angebote dazu gab es. Mir war an dem Punkt klar, dass dieser Schritt nicht der richtige Weg wäre. Ich wollte ein anderes Gleichgewicht in mein Leben bringen. Da ich eher zu den Extremen als zu den kleinen Schritten neige, bin ich nach Afrika ausgewandert.

Dazu sollte ich an dieser Stelle vielleicht erklären, dass wir 25 Jahre ein Paar waren. In diesen Jahren haben wir mehrere Transafrikareisen zusammen unternommen und sind dabei unter anderem bei einem Projekt in Togo, Westafrika vorbeigekommen, das dich sehr fasziniert hat. Warum?

Ich bin als Naturwissenschaftler bzw. Informatiker in einer sehr faktenorientierten und wissensorientierten Welt groß geworden. Auf den Reisen durch Afrika ist mir bewusst geworden, dass es andere Aspekte gibt, die mir bis dahin fremd waren. Mich haben vor allem die vielfältigen Begegnungen mit Menschen fasziniert, die ein Urvertrauen in geistige Kräfte haben.

Insbesondere bei der Gruppe die wir in Togo kennenlernen durften, habe ich festgestellt, dass da etwas ist, was für mich wichtig ist und mich weiterbringen kann. Das war für mich der Moment als ich mich entschied, bewusst nach dem anderen Teil der Schöpfung zu schauen, den ich bisher wenig wahrgenommen hatte.

Es war aber nicht nur die spirituelle Entwicklung die mich angezogen hat, sondern auch die private Entwicklungshilfe. Die Gruppe hat beispielsweise ein Waisenhaus betrieben und sich um die Gesundheit der Lokalbevölkerung gekümmert. Das gepaart mit dem Aspekt der Selbstversorgung hat mich angesprochen. Im Endeffekt lief alles auf den nächsten Schritt der Persönlichkeitsentwicklung hinaus. Es gehört zu meiner Wesensart, dass ich nicht nach hinten sondern meist nach vorne schaue. Daher habe ich mich in Togo darauf konzentriert eine neue Welt zu entdecken und damit für mich persönlich einen großen Schritt vorwärts zu tun.

Beschreib doch mal, wie wir uns dieses Projekt vorstellen können

Innerhalb des Projektes haben wir sehr einfach gelebt. Ich hatte eine kleine Hütte mit einem Betonpodest als Bett für mich. Wir haben fast alles in der Gemeinschaft von über 70 Leuten gemacht. Ich habe den Umgang mit den 50 Waisenkindern geliebt. Zu sehen, dass ich ihnen etwas geben kann, an ihrer persönlichen Weiterentwicklung teilhaben kann, das war sehr schön. Das ging über den Schulunterricht hinaus, denn wir haben z.B. auch handwerklich gemeinsam gearbeitet. Ich war auch fasziniert davon, von den Kindern zu lernen. Einiges können sie besser als wir Erwachsene, vor allem in Bezug auf den Umgang mit Tieren.

Was mich auch erfüllt hat war die Arbeit mit der Buschambulanz. Wir sind mit Ochsenkarren in die Dörfer gefahren und haben eine mobile Krankenstation aufgebaut. Für mich war immer wieder faszinierend zu sehen, dass wir mit einfachen Medikamenten (konventionell und pflanzlich) Leben retten konnten. Würmer und Amöbenruhr waren sehr häufig, auch bei kleinen Kindern. Als wir kamen, waren sie apathisch, eine Woche später waren sie schon wieder aktiv. Das waren sehr einschneidende Erlebnisse für mich. Die Wirkung meines Tuns war dort eine ganz andere. Hier konnte ich helfen Leben zu retten, in meinem alten Job habe ich minimale Änderungen in Unternehmen hervorgerufen, die dazu führten, dass Umsatz und Profit gesteigert wurden.

„Die Energie die ich hier eingesetzt habe, hat zu einem größeren Nutzen geführt, ich hatte einen größeren Hebel. In Deutschland hat das gleiche Gefühl bestimmt jede Krankenschwester die auf der Intensivstation Corona-Patienten betreut. Man muss also nicht zwingen nach Afrika fahren, um die gleiche Erfahrung zu machen.“

Ich habe mich in der Gruppe auf der geistigen und auf der materiellen Ebene mit anderen Dingen beschäftigt als zu Hause und gesehen, dass das für mich funktioniert. Ich habe darüber auch eine gewisse Leichtigkeit entwickelt. Ich hatte kein Einkommen und keine Krankenversicherung. Mir hat das aber ein Gefühl von Freiheit gegeben, weil ich festgestellt habe, dass ich nichts tun muss, wovon ich nicht überzeugt bin, nur um wirtschaftliche Randbedingungen zu erfüllen. Mir hat das das Bewusstsein gebracht, dass ich immer zurechtkommen werde.

Aber du hast die Gruppe nach ein paar Jahren verlassen. Wie kam es dazu?

Ich bin mit der Gruppe nach zwei Jahren in Togo weiter nach Bulgarien umgezogen, wo wir als Selbstversorger gelebt haben. Wir waren 28 Erwachsene und da gibt es natürlich Prozesse und Gruppendynamiken und ich hatte nach vier Jahren das Gefühl, dass ich wieder etwas Eigenes machen muss, dass es mir zu eng wird. Aber ich habe gespürt: Diese Art zu leben, als Selbstversorger, ist für mich genau das Richtige, naturnahes Leben und eingeschränkter Konsum.

Die Rückkehr nach Deutschland war sicher nicht einfach. Wie hast du das erlebt?

Die Erfahrung in Togo und Bulgarien hat mir Freiheit im persönlichen Handeln gebracht, denn als ich nach Deutschland zurückkam, war zwar klar, dass ich wieder Geld verdienen muss, aber ich wollte zunächst nicht ins Büro, denn ich hatte ja vier Jahre am Stück nur draußen verbracht. Also habe ich erst im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. In diesem Beruf konnte ich draußen sein und so viel verdienen wie ich brauchte, um leben zu können. Ich habe mich natürlich gefragt, was ich mache, wenn ich als Gartenbauer auf einen früheren Kunden treffe, aber dann habe ich mir gesagt, dass das bestimmt ein interessantes Gespräch wird und damit war es dann auch gut. Natürlich hat sich auch das Ego gemeldet und gefragt, ob ich wirklich als promovierter Naturwissenschaftler bei Leuten vor der Tür fegen kann. Die Antwort ist: „Ja, kann ich!“ Ich habe mit den Kunden immer wieder Gespräche geführt und Impulse gesetzt, welche kleinen Veränderungen möglich sind, um den Garten ökologisch sinnvoller zu gestalten. Insofern konnte ich auch hier etwas bewegen. Im Prinzip habe ich dabei nichts anderes gemacht als in der Beratung. Ich habe Einfluss genommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das in jedem Beruf möglich ist.

„Veränderung ist eine Frage der inneren Haltung. Ich muss mich frei machen von Standesdenken, von Zwängen und von dem was andere über mich denken mögen.“

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Aber es ist auch richtig, dass du nicht mit der Vorstellung nach Deutschland zurückgekehrt bist, ewig als Garten- und Landschaftsbauer zu arbeiten. Du wollest Selbstversorger werden. Wie hast du dieses Ziel weiterverfolgt?

Das stimmt, mein Ziel war in einer kleinen Gemeinschaft einen Selbstversorgerhof aufzubauen. Boris und Pialo, die ebenfalls Teil des Teams in Togo waren, haben damals entschieden mit mir nach Deutschland zu gehen und das Experiment Selbstversorgerhof mit aufzubauen.

So haben wir im April 2018 eine ehemalige Mühle in der Südpfalz nahe der französischen Grenze gekauft. Anfangs habe ich immer noch parallel im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. Irgendwann war ich soweit, dass ich die körperliche Arbeit gerne wieder mit einem Job kombinieren wollte, in dem ich meine anderen Fähigkeiten und Soft Skills einsetzen kann.

Ich wünschte mir ein wissenschaftsnahes Betätigungsfeld, bei dem es nicht darum geht, den Gewinn und Umsatz zu maximieren, sondern ein Themenfeld das einen Sinn für die Gesellschaft hat. So bin ich schließlich – nach über 6 Jahren Pause – wieder zur IT zurückgekehrt. In dieser Zeit hat sich natürlich technisch sehr viel getan, aber ich war schon bei IBM nicht der technische Experte, sondern eher der Stratege und habe gelernt mich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Ich muss bei der Arbeit die ich jetzt tue technisch nicht im Detail sein, sondern in erster Linie die Zusammenhänge und Konzepte verstehen. Meine Aufgabe ist das Innovationsmanagement. Das geht von der Akquise von Partnern und Forschungsgeldern über Projektdefinition bis hin zur strategischen Planung der Unternehmensziele. Zunächst einmal kein so großer Unterschied zum Bereich Beratung und Management, wie zuvor.

Aber heute arbeite ich für HeiGIT, ein gemeinnütziges Unternehmen, ein Start-Up, das von der Klaus-Tschira-Stiftung finanziert wird und an die Universität Heidelberg angegliedert ist. Hier werden Geoinformatiklösungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen generiert, die für humanitäre Organisationen von Nutzen sind, aber auch für Organisationen, die dem Klimawandel entgegenwirken. Um es einmal praktisch zu beschreiben: Wenn irgendwo eine humanitäre Katastrophe passiert, beispielsweise ein Erdbeben, dann unterstützen unsere Lösungen Hilfsorganisationen dabei, den Weg zu den Menschen zu finden, die Hilfe brauchen. Es geht aber auch um die Vorausplanung, also z.B. um die Frage wie viele Menschen in einem afrikanischen Land innerhalb von 60 Minuten eine Krankenstation erreichen können und wo bei einer Überflutung mit hoher Wahrscheinlichkeit die größten Lücken in der kritischen Infrastruktur entstehen. Alles Fragen, die mit Geoinformatik zu beantworten sind.

Mir macht diese Arbeit sehr viel Spaß, weil die Teams unglaublich motiviert sind. Jeder der sich in diesen Projekten engagiert hat den Willen etwas Sinnvolles zu tun. Mein Anspruch war immer, in der intensiven Zusammenarbeit mit Menschen Lösungen für Probleme zu finden. Das ist vielleicht das Verbindende zwischen meiner Karriere vor und nach dem Ausstieg.

Soft-Skills veralten nicht, habe ich festgestellt. Mir schwirrte eher der Kopf, weil ich es nicht mehr gewohnt war, viele Informationen in sehr kurzer Zeit zu verarbeiten. Aber daran habe ich mich schnell wieder gewöhnt. Ich habe heute eine 50-Prozent-Stelle. Das heißt ich arbeite von Montags bis Mittwochs im Unternehmen HeiGIT, so habe ich von Donnerstag bis Sonntag Zeit, mich auf unseren Selbstversorgerhof zu konzentrieren. Das fühlt sich für mich nach einer guten Teilung an.

Wie sieht euer Mühlenprojekt denn heute aus?

Außer den eingangs erwähnten Ziegen und Schafen haben wir Hühner, Laufenten, Gänse, Bienen und Anton, den Hofhund. Außer Anton sind alle Tiere von Nutzen für die Selbstversorgung. Die Ziegen produzieren Milch, die wir trinken und zur Herstellung von Frisch- und Hartkäse einsetzen. Auch die Schafe sind Milchtiere. Wir nutzen außerdem ihre Wolle zum düngen und mulchen im Garten. Wir haben die Vision sie auch einmal zu spinnen, aber dafür fehlt im Moment die Zeit. Die Hühner legen Eier, die Bienen schenken uns Honig. Die Laufente hält die Nacktschnecken vom Garten fern.

Der Hof ist nach Permakulturgesichtspunkten aufgebaut. Die Beete im Garten werden in jedem Jahr versetzt, damit sich ein Teil ausruhen kann, auf dem Klee wächst, der Stickstoff produziert. An der Stelle haben wir im nächsten Jahr wieder einen ausgeruhten Boden. Wir bauen viel Gemüse an, das eingekocht oder getrocknet wird. So verfügen wir auch im Winter über alles was wir brauchen. Wir bauen auf unserem Feld Kartoffeln, Mais, Bohnen und Getreide an.

Der ganze Hof hat vier Hektar, wovon nur ein kleiner Teil intensiv bewirtschaftet wird. Viel Land ist Weidefläche. Außerdem führt ein Bach und der Mühlgraben durch unser Grundstück. Es gibt naturbelassene Teile und einen Sumpf.

Auf unserer Streuobstwiese haben wir 20 Hochstammbäume zu 15 Obstbäumen aus altem Bestand gepflanzt. Das sind Apfelbäume, Birnen, Quitten, Pflaumen und Süßkirschen. Aus den Äpfeln machen wir Saft und dieses Jahr habe ich zum ersten Mal aus unserem Apfelwein Schnaps gebrannt, Pfälzer Calvados sozusagen.

Wie tastet ihr euch denn an die Selbstversorgung heran, oder habt ihr aus Bulgarien schon genug Erfahrung mitgebracht?

Wir haben in Bulgarien und Togo schon viel Erfahrung gesammelt, aber es gibt noch viel zu lernen und auszuprobieren. Wir experimentieren sehr viel und versuchen die Selbstversorgung immer ein Stück weiterzubringen. Es braucht Zeit und viel Geduld. Wir sprechen gerne mit alten Leuten, schauen Youtube-Videos etc. Was wir tun ist ja grundsätzlich nicht neu, unsere Großeltern haben das noch gemacht, aber vieles Wissen wir einfach nicht mehr.

Um ein Beispiel zu nennen: Wir hatten 6000 Quadratmeter, die mannshoch mit Adlerfarn bewachsen waren und somit unbrauchbar. Die Bauern aus der Umgebung waren sich einig, ebenso wie die Foren im Internet, dass man das nur wegbekommt, wenn man Gift ausbringt. Das war für uns natürlich keine Option. Einer der Alten hat uns dann den Tipp gegeben, das Feld regelmäßig zu mähen. Also sind wir zu viert mit der Handsense sieben Mal im Jahr über den Adlerfarn und haben ihn gesenst. Das haben wir zwei Jahre hintereinander gemacht. Damit haben wir ihn schon etwas geschwächt. Im Anschluss haben wir Mist auf dem Feld ausgebracht, um die Bodenkultur zu verändern und haben alles, vom Biobauern um die Ecke, einmal umpflügen lassen. Die Wurzeln haben wir herausgesammelt. Und siehe da: Jetzt ist das Ganze eine schöne Wiese die als Weide taugt. Das hat lange gedauert und viel Arbeit bedeutet, aber es hat geklappt. Alle unsere Flächen sind in den letzten 30 Jahren nicht bewirtschaftet worden und daher frei von Chemie. Wenn es nach uns geht, soll das auch so bleiben. Da um uns herum auch alle biologisch und kleinbäuerlich arbeiten, leben wir in unserem Mühlental eigentlich in einem Paradies.

Wir haben natürlich einen großen Luxus. Wir müssen nicht von dem leben, was wir anbauen. Wenn eine Ernte misslingt, wie z.B. im letzten verregneten Sommer die Tomaten, dann können wir Nahrungsmittel kaufen. Wir verhungern deshalb nicht. Es ist ein Experiment, das in erster Linie Spaß macht. Wir sind nicht so dogmatisch, dass wir sagen „wir essen nur das, was wir selbst angebaut haben“. Wenn ich im Winter Lust auf eine Bio-Orange habe, dann kaufe ich sie. Doch größtenteils leben wir von Obst, Gemüse oder Kartoffeln, kurzum von anderem, was wir selbst ernten.

Ihr seid jetzt auf der Suche nach neuen Mitgliedern für eure Selbstversorgergemeinschaft. Wen habt ihr euch denn vorgestellt?

Ja das stimmt. Boris und Pialo haben uns inzwischen verlassen, weil sie den Wunsch hatten, mit dem Segelboot eine Weltreise zu machen.

Wir haben von Anfang an das Ziel gehabt in einer kleinen Gruppe den Selbstversorgerhof zu betreiben, damit jeder seine Freiräume behält, man auch mal in Urlaub gehen oder über Nacht Freunde besuchen kann. Mit Tieren muss zumindest morgens und abends jemand da sein. Zu zweit würde das also nicht mehr gehen.

Daher ist unsere Idee, eine neue Gemeinschaft zu gründen, die gemeinsam das Projekt weiterentwickelt. Wir haben das Glück, dass wir noch ein zweites Haus auf dem Mühlengelände haben, das momentan leer steht, weil die Mieter ausgezogen sind. Wir haben also Wohnraum, den man entsprechend umgestalten kann, um weitere Mitglieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Platz wäre für 4 bis 5 Leute. Uns schwebt eine junge Familie vor und jemand mit etwas handwerklicher Erfahrung.

Wir suchen Menschen, die sich vorstellen können intensiv in die Selbstversorgung einzusteigen, die auch die Zeit, körperliche Fitness und Energie mitbringen dies umzusetzen, denn wir tun viel in Handarbeit und wenig mit Maschinen. Es gibt immer etwas zu tun, mit den Tieren, im Garten im Feld oder handwerklich. Das ist sehr vielseitig und macht Spaß. Wir sehen das nicht als Arbeit, sondern als unsere Art zu leben.

Ideen zur Fortentwicklung gibt es viele: Wir könnten zum Beispiel ein Wasserrad einbauen, um unseren eigenen Strom zu generieren. Wir könnten längerfristig einen Hofladen einrichten, in dem wir unsere Überschüsse verkaufen. Außerdem gibt es noch sehr viel brach liegende Wiesen in unserer direkten Umgebung. Da haben wir schon überlegt, Wasserbüffel anzuschaffen, dann könnten wir neben Ziegenkäse sogar Mozzarella herstellen!

Wir bauen auch gerade ein kleines Gästehaus am Bach, in das jemand einziehen kann, der für begrenzte Zeit in unserem Projekt arbeiten und sich zum Thema Selbstversorgung fit machen möchte.

Aber wir sind flexibel und gespannt welche Ideen die neuen Mitglieder mitbringenWir sind offen für neue Impulse. 

Wie sieht denn dein Tagesablauf im Moment aus?

Am Morgen versorge ich zuallererst die Tiere. Dann setze ich mich am Bach unter unsere drei großen, schönen Eichen und meditiere. Danach wird gefrühstückt und dann geht´s ins Home-Office an den Computer.

Auf diese Weise komme ich mit innerer Ruhe in den Tag und kann mich fragen, ob es für mich persönlich Dinge gibt, die anstehen. An meiner persönlichen Weiterentwicklung arbeite ich natürlich immer noch, das hört niemals auf. Über die Meditation kann ich mir Aspekte bewusst machen und schauen, wie ich diese im Alltag umsetzen kann. Nur so wird Veränderung tatsächlich sichtbar.

Du hast in deinem Selbstversorgerhof dein Herzensprojekt verwirklicht. Was möchtest du Menschen mitgeben, die sich in einer Lebenssituation gefangen fühlen, eigentlich aber etwas anderes wollen?

Mein Vorteil war, dass ich keine Zwänge hatte, ich hatte keine Kinder und keine wirtschaftlichen Verpflichtungen, das hat mir den Ausstieg natürlich leichter gemacht. Was jeder für sich selbst hinterfragen kann ist, wieviel Geld er wirklich braucht, um das Leben zu leben, das er wirklich leben will.

Viele Menschen versuchen den Lebensstandard den sie haben zu halten. Aber die Frage ist doch: Macht mich dieses Leben wirklich glücklich? Die Frage die für mich zentral war lautete: „Worauf kann ich verzichten, wenn ich dafür etwas anderes bekomme?“

Ich habe auf Weinreisen früher gerne mal 1000 Euro ausgeben. Heute kaufe ich keinen Wein mehr. Gute Freunde bringen eine Flasche mit, wenn sie mich besuchen, weil sie wissen, dass ich es schätze. Mir macht es dann viel mehr Spaß diesen Wein gemeinsam zu trinken bei einem guten Essen oder am Lagerfeuer. Ansonsten trinke ich Wasser und Apfelsaft und habe nicht das Gefühl etwas zu vermissen.

Dadurch, dass ich auf vieles verzichten kann, habe ich einen viel geringeren Bedarf an Geld. Ich habe meinen Konsum eingeschränkt, ohne dass es mir weh tut. Dadurch kann ich mit einem 50-Prozent-Job gut leben. Für andere Menschen ist der Teilzeitjob vielleicht auch eine Alternative, weil dann mehr Zeit bleibt, um einer Beschäftigung nachzugehen, die dir wichtig ist und dich erfüllt.

Eine Variante die ich auch empfehlen kann ist die Auszeit. Möglichkeiten gibt es genug. Das Ziel ist immer das Gleiche: sich Freiräume zu schaffen. Das ist bei uns in Deutschland angstbesetzt, weil uns das Sicherheitsdenken anerzogen ist. Daher ist das oft ein langer Weg, den man auch stückweise gehen kann. So hat es für mich funktioniert, erst Auszeit,  dann der Ausstieg und jetzt reduzierte Arbeitszeit.

„Ich denke man muss willens sein, sich von altem zu trennen. Ich kann nicht alles behalten wollen was ich habe und trotzdem etwas Neues wollen. Ich muss bereit sein etwas aufzugeben, um offen zu sein für etwas Neues, auch wenn das manchmal weh tut.“

Bei meinem ersten Sabbatical haben mir Kollegen und Peers abgeraten. Das sei ein Karriere-Killer, haben sie vorausgesagt. Aber es hat mir nicht geschadet, denn auch durch meine Erfahrungen auf Reisen in Afrika habe ich mich weiterentwickelt. Ich weiß heute beispielsweise mit Krisensituationen viel besser umzugehen. Denn „Krise“ hat für mich inzwischen eine andere Bedeutung. Selbst wenn ich im Job eine Fehlentscheidung treffe, dann stirbt niemand. So kann ich mich in diesen Situationen viel ruhiger und menschlicher verhalten.

Auf welche deiner Eigenschaften konntest du dich im Laufe dieses Prozesses verlassen?

Ich freue mich immer über neue Erfahrungen. Ich habe mir die kindliche Neugier erhalten, das ist sicher ein Punkt. Mir war auch immer klar, dass ich zurechtkomme. Ich habe dieses Bewusstsein, dass ich mich selbst über Wasser halten kann.

Als Garten- und Landschaftsbauer beispielsweise war ich ungelernte Kraft. Da habe ich 12,50 Euro/Stunde verdient. Jobs, mit denen man nicht auf das Sozialsystem angewiesen ist, lassen sich immer finden, sofern man gesund und leistungsfähig ist. Gleichzeitig weiß ich, dass ich mir nicht zu schade dafür bin einen Job zu machen, der nicht auf dem gleichen Niveau ist wie der, den ich einmal hatte. Ich bin der Überzeugung, dass jede Arbeit ihren Wert hat.

Du musst an dir und deiner Umgebung arbeiten wollen, um etwas voran zu bringen bzw. eine Veränderung hervorzurufen. Dazu gehört Mut, denn du musst Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Was daraus erwächst ist oft ungewiss. Vertrauen in sich selbst und das große Ganze ist hilfreich. Die Bereitschaft zu scheitern gehört auch dazu. Unsere Bienen sind ein Beispiel. Ich hatte mir ein Buch gekauft und danach bin ich vorgegangen. Die Bienenvölker sind leider gestorben. So haben wir uns einmal mehr Rat von außerhalb geholt, mit dem es jetzt hoffentlich besser klappt. Wichtig ist, sich von Fehlschlägen nicht entmutigen zu lassen, zu analysieren warum es schiefgegangen ist und daraus zu lernen. Und hinein zu fühlen, ob das Ziel das ich verfolge wirklich zum Projekt passt. Andernfalls muss ich mich von einer Idee auch verabschieden können.

Ich glaube nicht, dass es generell ein richtig oder falsch gibt, das muss jeder für sich herausfinden. Man muss aber eben die Bereitschaft haben sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Für mich ist das Wichtigste respektvoll miteinander umzugehen.

„Daher suchen wir jetzt auch nach Menschen für unser Projekt die offen sind und in Harmonie mit unserem Flecken Erde leben wollen.“

Verfolgst du mit deinem Selbstversorgerprojekt auch eine Art höheres Ziel?

Im Grunde möchte ich Menschen inspirieren, etwas in ihrem eigenen Leben zu ändern. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise wie wir heute leben, nicht langfristig tragfähig ist, weil wir über unsere Ressourcen leben. Die Lösung liegt sicher nicht darin, dass alle zu Selbstversorgern werden. Ich sage auch nicht, dass der Weg den wir gehen der einzig richtige ist. Er fühlt sich nur für mich gut an. Der Ansatz ist eher, bewusster mit der Natur umzugehen. Also: Wie kann ich mein Handeln verändern, damit es mehr in Einklang mit der Natur kommt?

Wenn jemand nach einem Besuch bei uns sein Verhalten anpasst, beispielsweise seinen CO2-Fußabdruck verkleinert, dann finde ich das super. Ich könnte mir auch vorstellen hier mit Kindern zu arbeiten, z.B. Wochenendfreizeiten mit Gruppen oder Familien. Es gibt viele spannende Möglichkeiten Menschen an das Leben im Einklang mit der Natur heranzuführen.

Die Natur ist für uns Menschen die Voraussetzung für ein lebenswertes Leben. Einige Wenige von uns könnten wahrscheinlich sogar in einer künstlichen Umgebung klarkommen, aber die Frage ist, ob das wirklich erstrebenswert ist.

Von der Politik würde ich mir wünschen, dass Entscheidungen nicht nur getroffen werden, sondern dass diesen Entscheidungen auch relevante Taten folgen. Aber mir ist auch klar, dass Politik immer Zwängen unterworfen ist. Außerdem kann Politik nur das umsetzen, was die Gesellschaft mitträgt. Daher ist unsere Gesellschaft zur Zeit sehr gefordert. Es kommt auf die Veränderungsbereitschaft und das Veränderungsbewusstsein jedes Einzelnen an. Wenn das angekommen ist, dann wird auch die Politik handeln.

Geduld ist nicht meine Stärke aber ich denke gesellschaftliche Änderungen lassen sich nicht erzwingen. Ich wage keine Prognose ob es uns gelingt die Schöpfung zu bewahren. Leider gibt es ja immer noch Menschen die Klimawandel und das Artensterben als Fakt nicht akzeptieren wollen und ich habe keine Idee mehr, wie man es ihnen erklären kann.

Ich bin aber trotzdem optimistisch, denn in meinem beruflichen Umfeld arbeite ich viel mit jungen Leuten zusammen, die in ihrem Handeln sehr konsequent sind und sich begeistert für die Umwelt einsetzen, angefangen vom Verzicht auf das Auto über die vegetarische oder vegane Lebensweise bis hin zur generellen Reduzierung von Konsum. Der Großteil der Gesellschaft hat das Problem sicher verstanden, weiß aber nicht, wie man darauf reagiert. Die Jugend hat hier große Einflussmöglichkeiten auf ihr direktes Umfeld.

In unserem Projekt ist es ähnlich. Die großen Räder sind für uns zu komplex, aber in unserem kleinen Radius können wir Menschen inspirieren, ihnen aufzeigen welche Möglichkeiten sie persönlich haben.

Stefan ich danke dir für diesen inspirierenden Austausch und wünsche euch, dass ihr Menschen findet, die euer Projekt bereichern.

Danke liebe Heike für die Gelegenheit, dies hier vorzustellen!

Wenn ihr euch für Stefans Projekt interessiert, dann empfehle ich euch seine Webseite Leben im Einklang mit der Natur

Anfragen bezüglich der Mitgliedschaft in der Selbstversorgergemeinschaft richtet ihr direkt an ihn per Mail: stefan@blackcontinent.de

Und wenn euch die Abenteuer interessieren, die Stefan und ich gemeinsam in Afrika und anderswo erlebt haben, dann könnt ihr gespannt sein auf mein Buch, das im Mai 2022 erscheinen wird. Alle aktuellen Infos dazu findet ihr auf meinem Instagram Autoren Account @heidimetzmeier und bald auch auf der Webseite https://heidimetzmeier.de

Kommunikation in Zeiten des Krieges

Viele Unternehmer und Selbstständige fragen sich in diesen Tagen, ob “business as usual” in der Kommunikation den Menschen zuzumuten ist. Dem möchte ich heute nachgehen.

Ich selbst habe ein paar Tage gebraucht, um meine Schockstarre und Fassungslosigkeit – angesichts der Bilder und Nachrichten aus der Ukraine – zu überwinden. Mit Kopfschütteln habe ich derweil zur Kenntnis genommen, dass viele Akteure vor allem im Online-Business ihr Marketing haben weiterlaufen lassen wie gewohnt. Die Posts waren wahrscheinlich seit Wochen vorgeplant und sind automatisiert freigeschaltet worden. So macht man das heute.
Andere haben sich auf nachgerade peinliche Weise am Spagat zwischen Solidarität und wirtschaftlichen Zwängen versucht. Die Influencerin z.B., die in modischer blau/gelb-Kombination vor die Kamera tritt und unter dem Foto einen Betroffenheitspost absetzt.

Das soll nicht heißen, dass Funkstille die einzig mögliche Alternative ist. Im Gegenteil, sensible Kommunikation, die sich ernsthaft mit den Gefühlen und Bedürfnissen der eigenen Zielgruppen auseinandersetzt, ist jetzt wichtiger den je. Über die Auseinandersetzung mit schwierigen Themen können wir eine persönliche Beziehung zu den Menschen aufbauen, deren Aufmerksamkeit uns wichtig ist. In diesen Zeiten zeigt sich, welche Werte von einem Unternehmen, einer Organisation oder einem Dienstleister wirklich gelebt werden.

Hier ein paar Tipps, wie meiner Meinung nach die Kommunikation auch dann aktiv gestaltet werden kann, wenn Menschen an alles beherrschenden, belastenden Themen hängen:

  • Schlage leisere Töne an

Das Sprichwort “der Ton macht die Musik” gilt auch für die Kommunikation. Etwas mehr Zurückhaltung in der Wucht der Worte und der Bilder ist in emotional belastenden Situationen hilfreich. Weiche Bilder und zarte Töne  reduzieren Stress, mildern Gefühle von Wut oder Ohnmacht.
Lass Empathie aus deinen Texten sprechen. Zeige Mitgefühl für die Betroffenen. Auch wenn das Wort gerade etwas überbeansprucht wird: zeige dich authentisch. Lass Einblicke in deine  Gefühlswelt und deine Gedanken zu. Emotionen erzeugen Gemeinschaft, die über die Krise hinaus tragfähig sein kann. 

  • Lasse den Worten Taten folgen

In einer Krise ist nichts schlimmer als in Tatenlosigkeit zu verharren und zuzusehen, wie sich die Dinge zuspitzen. Zeige, dass du nicht nur in deinem Business weißt was zu tun ist, sondern, dass du auch in Situationen die besonderes gesellschaftliches Engagement erfordern, aktiv deinen Beitrag zu leisten verstehst. Orientiere dich dabei an den Möglichkeiten und Schnittpunkten mit deiner Kernkompetenz. Ein Unternehmen der Gesundheitsindustrie kann mit Medikamenten aushelfen, eine Physiotherapeutin oder Ärztin kann sich Flüchtlingen annehmen, ein Logistikunternehmer kann Hilfstransporte organisieren. Bist du Coach? Dann kannst du vielleicht besondere Angebote machen für Menschen in Deutschland, die das was sie gerade emotional durchmachen nicht alleine verarbeiten können. Was immer es ist das du tust, aus deinem Handeln sprechen deine Werte. Wenn du darüber sprichst, schafft dies Möglichkeiten, sich mit dir und deinem Business zu identifizieren.

  • Fordere dazu auf, ins Handeln zu kommen

Viele Menschen warten nur darauf, dass ihnen jemand sagt, was zu tun ist, damit sie das Gefühl der Ohnmacht und der Trauer loswerden. Aktivität gibt Energie und uns ein Stück weit die Kontrolle über die Situation zurück. Hilf den Menschen, mit denen du kommunizierst, indem du Alternativen anbietest. Das ist natürlich besonders einfach, wenn du selbst unterstützend tätig bist, aber auch wenn du dich nicht direkt involvierst, kannst du Menschen zur Aktivität aufrufen, zum Beispiel indem du auf deinen Webseiten die Kontaktmöglichkeiten für Geld- oder Sachspenden auflistest. Vielleicht gibt es Benefizveranstaltung ortsansässiger Vereine, die du mit bewerben kannst. Kooperiere mit den städtischen Institutionen und der Kommunalverwaltung. Vielleicht gibt es Möglichkeiten Flüchtlinge vor Ort zu unterstützen, durch Wohnraum oder Hilfe bei Behördengängen. Wenn du dich hier als Vermittler anbietest, tust du nicht nur gutes, sondern vergrößerst sogar noch dein Netzwerk persönlicher Kontakte.

Als Arbeitgeber fällt dir hierbei noch eine besondere Verantwortung zu: die für deine Mitarbeiter. Wenn jemand aus deinem Unternehmen die Berufung spürt längerfristig aktiv zu sein, dann solltest du mit dieser Person zusammenarbeiten, um im Gespräch Möglichkeiten auszuloten, wie dies gelingen kann. Schaffe Freiräume seine Hilfsbereitschaft auszuleben. Ein Mitarbeiter der gesellschaftliches Engagement zeigt, trägt seine Werte in dein Unternehmen hinein und seine Geschichte in die Welt hinaus.

  • Stärke die Selbstfürsorge

Da wir gerade bei den Mitarbeitern sind: Es herrscht derzeit in allen Fluren Gesprächsbedarf. Öffne den Raum dafür, dass Kommunikation innerhalb der Belegschaft über das was sie bewegt möglich ist. Halte den Raum auch für die sensibleren Geschöpfe, engagiere gegebenenfalls Coaches oder Gesprächstherapeuten, um den Prozess professionell zu begleiten. Überlege auch, welche Angebote du über die Kommunikation hinaus machen kannst, damit die seelische Gesundheit deiner Mitarbeiter erhalten bleibt.

  • Baue Brücken auf und Ängste ab

Zum Schluss noch eines: In der aktuellen Situation ist es gut möglich, dass Menschen hier in Deutschland die Auswirkungen der Sanktionen finanziell auf schmerzhafte Weise zu spüren bekommen. Einige haben in diesen Tagen schwere emotionale Probleme oder Existenzängste. Hier ist zwar auch die Regierung in der Verantwortung. Du kannst aber dazu beitragen, dass der akute Druck nachlässt. Haben Kunden bei dir Zahlungsverpflichtungen, die du aussetzen oder strecken kannst? Hilft ein Mietrabatt? Besteht die Möglichkeit einer firmeninternen Finanzierungshilfe für das Haus? Diese Angebote proaktiv an die Betroffenen zu kommunizieren löst mehr aus, als jede aktuelle Imagekampagne oder Werbeanzeige.

Und so komme ich zu meiner Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Nein, business as usual ist in Bezug auf die Kommunikation in meinen Augen gerade keine Option. Das heißt aber nicht, dass ich meine Bemühungen mit meinen Zielgruppen in Kontakt zu bleiben einstellen muss. Ich habe vielmehr die Verpflichtung, meine Strategie und meine Botschaften zu hinterfragen, ob sie der aktuellen Situation angemessen sind. Darin liegt im besten Falle die Chance, sich zu einem noch stärker werteorientierten, sozialen Unternehmen hin zu entwickeln.

P.S.: Dass soziales Unternehmertum in der Zukunft alternativlos ist hat meine Kollegin Manuela Pastore übrigens in einem sehr emotionalen Beitrag reich an Beispielen in diesem Blog einmal dargelegt. Den Gastbeitrag findest du hier.

 

Vom Wesen und Wandel der Kommunikation – Eine Annäherung

Ich inspiriere diesen Blog – zusammen mit Gastbloggern und Interviewpartnern – nun seit drei Jahren und stelle gerade fest, dass über die Kernfrage noch nie ein Wort verloren wurde.
Höchste Zeit dies nachzuholen.

“Warum kommunizieren wir und wie verändert sich unser Kommunikationsverhalten in diesen Zeiten?”

Ein gerne zitierter Satz aus den Public Relations lautet: „Wir können nicht nichtkommunizieren.“ Jeder der schon einmal erlebt hat, wie laut das Schweigen auf eine Situation oder eine Aussage hin sein kann weiß, dass das stimmt. Ich musste bei der jüngsten Bundestagswahl wieder daran denken. Wer seine Stimme verweigert oder ungültig macht setzt damit ein politisches Signal. Dieses reicht von: „Die da oben machen sowieso was sie wollen“, bis hin zu: „Ich stehe außerhalb der Gesellschaft und habe mit all dem nichts zu tun.“

Wenn die Stille bereits eine Botschaft aussendet, wie stark muss dann erst die Kraft der Worte sein?

Sprache unterscheidet uns Homo sapiens von allen anderen Spezies auf diesem Planeten und verschafft uns einen evolutionären Vorteil. Dabei dient sie weit mehr als dem reinen Informationsaustausch. Kommunikation stellt eine Art Grooming dar. Sie ersetzt das Lausen und Kraulen wie wir es beispielsweise von Schimpansen kennen. Das sorgt für gute Stimmung innerhalb der Gruppe. Zur Gemeinschaft gehört, wer die gleiche Sprache spricht. Darum bilden sich in jeder Generation sprachliche Neuschöpfungen aus. Wer sich von außerhalb dieser Rhetorik bedient, wird sofort als fremd entlarvt, weil etwa der Sprachfluss unnatürlich wirkt, oder die Worte auswendig gelernt klingen.

Kommunikation ist sozialer Kit. Sie vermeidet Konflikte und bewahrt den Frieden. Diplomaten können ein Lied davon singen. Wenn das Ende des Dialogs erreicht ist, bleiben nicht mehr viele Optionen. Aufrührer wissen genau, welcher Ausdruck als Waffe wirkt. Rhetorische Gefechte klären die Rangordnung, ohne dass Blut fließt. Wie gut jemand diese Kunst beherrscht entscheidet über seine soziale Stellung. Dies ist besonders eindrucksvoll in der höheren Unternehmensetagen zu beobachten und meiner Auffassung nach ein weiterer Grund dafür, warum Frauen in Führungspositionen immer noch unterrepräsentiert sind: Weil sie wenig Lust darauf verspüren, sich an diesen Scharmützeln zu beteiligen.

Seitdem wir über Sprache kommunizieren, hat der Fortschritt enorm an Fahrt aufgenommen, denn Kommunikation fördert den kreativen Prozess. Wir inspirieren uns im gegenseitigen Austausch, entwickeln Ideen des anderen weiter und ermöglichen Innovation. Es hat zwar in der Geschichte immer auch Individualisten gegeben, deren Genialität wir großartige Erfindungen zu verdanken haben, aber für alle anderen gilt: Kommunikation wirkt als Beschleuniger. Im intensiven Austausch (neudeutsch Brainstorming) kommen wir deutlich schneller ans Ziel.

Kommunikation ist durch verschiedene Faktoren extrem unter Druck geraten

Auch dieser Artikel kommt leider nicht ohne die Erwähnung von Corona aus. Abstand ist gut gegen die Virusübertragung, aber sie stellt unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Zerreißprobe. Selbst wenn wir mit modernen Kommunikationstechniken allerhand Tools zur Verfügung haben, um die Distanz zu überbrücken, so kann das Zoom-Meeting den persönlichen Austausch an der Kaffeemaschine nicht ersetzen, weil es hier um mehr geht als die Präsentation von Arbeitsergebnissen. Als Hundebesitzerin war ich während des Lock Down meinem Labradoodle jeden Tag zutiefst dankbar, dass ich mich zumindest auf Distanz mit anderen Herrchen und Frauchen habe austauschen können. Bei vielen Mitmenschen habe ich den Eindruck, dass sie „smalltalk“ erst wieder lernen müssen. Welche Rolle Mimik und Gestik dabei spielen wird mir jedes Mal bewusst, wenn ich versuche mit der Maske auf der Nase einen Witz zu machen.

Aber Corona ist nicht unsere einzige Herausforderung. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Digitalisierung Kommunikation im gleichen Maße erschwert, wie sie sie erleichtert. Wir können zwar in Echtzeit mit vielen Menschen gleichzeitig kommunizieren, aber um den Preis, dass unser Gegenüber die Klangfarbe unserer Stimme nicht hört und unseren Gesichtsausdruck nicht sehen kann. Jeder der schon einmal eine unerwartete Reaktion auf seine WhatsApp-Nachricht geerntet hat weiß, dass Kommunikation über elektronische Medien sehr wohl hohes Potenzial birgt falsch verstanden zu werden. Bei einer Konversation von Angesicht zu Angesicht kann ich Missverständnisse sofort klarstellen. Bei einer E-Mail, die unter Umständen erst Tage später gelesen wird, geht das nicht.

Elektronische Medien haben unsere Kommunikation geprägt wie keine andere Entwicklung. Sie wird verkürzt, verknappt und beschleunigt. Wir kommunizieren über mehrere Kanäle hinweg parallel und konzentrieren uns auf keines der “Gespräche” wirklich. Emotionen übertragen wir auf Emojis, die ein enges Spektrum abbilden. Gleichzeitig werden wir mit Inhalten (nicht zu verwechseln mit Informationen) zugeschüttet, elektronischer Kommunikations-Müll, für dessen Filterung wir uns mühsam Mechanismen antrainieren müssen.

Ein Forscherteam hat vor einiger Zeit in Nature Communication publiziert, dass unsere kollektive Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird. Will heißen: Themen gewinnen schnell an Dynamik, aber der Hype nimmt auch genauso schnell wieder ab. Keine gute Botschaft für Menschen, deren Aufgabe es ist, Nachrichten zu erzeugen. Die spannende Frage wird sein, wie sich dies auf unsere Fähigkeit auswirkt, Informationen zu bewerten.

Zu guter Letzt bieten soziale Medien die Möglichkeit in der Anonymität eine Form der Kommunikation zu praktizieren, die wir uns im direkten Dialog niemals erlauben würden. Da wird gehetzt, gehasst, geschmäht und gemobbt. Nicht nur für die jüngere Generation, die mit sozialen Medien als einer Selbstverständlichkeit aufwächst, ist das sehr schwer auszuhalten. Hier ist eine Kommunikations-Ethik überfällig. Zu lange haben die Entwickler dieser Programme darauf vertraut, dass es die Community unter sich schon richten wird. Das an der Hochschule für Medien in Stuttgart angesiedelte Institut für Digitale Ethik hat sich genau das zur Aufgabe gemacht. Hier wird viel in Forschung aber auch in Bildung – insbesondere der Digital Natives –  investiert. Die 10 Gebote scheinen selbstverständlich, sind es aber bei weitem nicht.

Quelle: Institut für digitale Ethik: https://www.hdm-stuttgart.de/digitale-ethik/lehre/10_gebote

Der PR-Ethikrat in Österreich hat für die Zunft einen online-Kodex für digitale Kommunikation entwickelt der auf den 8 Punkten Fairness, Respekt, Verantwortung, Moderation, Klarheit, Transparenz, Höflichkeit und Privatsphäre basiert. Man möchte meinen, das läge auf der Hand.

Der dritte Punkt, der Kommunikation heute zu einem Experiment mit ungewissem Ausgang macht ist die Globalisierung. Wir sind soziale Wesen die durch Sprache vereint werden. So war der Versuch eine „Weltsprache“ zu etablieren durchaus lobenswert. Aber ob wir nun Englisch als die Sprache der globalen Gemeinschaft definieren oder Kunstsprachen wie Esperanto entwickeln, alle Versuche scheitern daran, dass Kommunikation mehr ist als der Austausch von Worten. Es ist zutiefst menschlich das was wir hören zu interpretieren. Den Rahmen für diese Interpretation liefern neben der persönlichen Erfahrung und der Erziehung, unser ideologischer und kultureller Hintergrund, also Einflüsse aus Kultur, Religion und Gesellschaft. Kein Wunder also, wenn der Dialog zwischen – sagen wir – einem Amerikaner und einem Perser im Desaster endet, wenn nicht zuvor ein interkulturelles Training absolviert wird.

Was bedeutet das für Kommunikation im Business?

Kommunikation die zum Ziel führen soll – egal wie dieses definiert ist – gelingt besser aus einer Position der Gelassenheit heraus. Eine angenehme Gesprächsatmosphäre ist der beste Nährboden, um Konflikte zu vermeiden und Probleme zu lösen. Wichtig ist, dass dabei ein Schutzraum erzeugt wird, in dem auch Ängste zur Sprache kommen können, denn wir haben deutlich weniger Angst vor dem, was wir benennen.

Ich halte es außerdem für essentiell, auf Kommunikation zu setzen, in der persönliches Erleben live und in Farbe möglich ist. Das gilt ebenso für Mitarbeiter eines Unternehmens untereinander wie für den Dialog zwischen Firmenrepräsentanten und ihren Kunden. Wir verbinden Werte wie Vertrauen, Verantwortung oder Authentizität mit Erfahrungen die wir mit Menschen machen, auch wenn immer wieder versucht wird, diese Qualitäten auf Marken zu übertragen. Unternehmer sind gut beraten, wenn sie diese Erlebniskultur der Kommunikation in ihre Corporate Identity integrieren. So wird auch der Rahmen dafür geschaffen, dass der Kunde das Produkt oder die Dienstleistung erleben kann, was eine Identifikation damit erst ermöglichen.

Digitale Kommunikation ist ein Stressfaktor. Als Entrepreneur trage ich Verantwortung dafür, meine Mitarbeiter vor Überanstrengung zu schützen. Dies gelingt, wenn permanente Erreichbarkeit nicht mehr als Kriterium der Identifikation mit dem Unternehmen herangezogen wird, oder die Erreichbarkeit in der Freizeit selbstverständlich ist. Viele Unternehmen haben hier Gegenmaßnahmen ergriffen, die von der Mailpause bis zur Anrechnung von mobilen Einsätzen als Überstunde reichen.

Kommunikation innerhalb des eigenen Business und nach außen ist dann erfolgreich, wenn sie aktiv gestaltet wird. Damit meine ich eine aktive Auseinandersetzung damit, wie die Kommunikationskultur aussehen soll. Wollen wir rhetorische Rangkämpfe oder setzen wir auf systemischen Konsens? Sind Gespräche geprägt von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt? Finden sie auf Augenhöhe statt? Ist die Sprache gewaltfrei und inklusiv? Viele Unternehmen geben sich heute einen Kommunikationskodex, der diese Punkte für alle Ebenen verbindlich festzulegt.

Schließlich und endlich hängt der Erfolg eines Business davon ab, vom Kunden verstanden zu werden. Es ist ein Treppenwitz der PR, dass genau das in vielen Branchen scheitert, weil die Wortwahl des Unternehmens nicht mit der des Kunden zusammenpasst. Welche Fehler häufig sind und wie du sie in deinem Business vermeiden kannst, habe ich in dieser Grafik zusammengefasst. Du kannst sie kostenlos und ohne vorherige Anmeldung für einen Mailverteiler herunterladen. Ich freue mich aber natürlich, wenn dich meine Inhalte ansprechen und du dich deshalb dafür entscheidest meinen Newsletter zu abonnieren.

Darin findest du weit mehr als den Hinweis auf neue Blogbeiträge. Ich greife aktuelle Themen auf, die sich im Blog nicht unbedingt wiederfinden, stelle Talente aus meinem Netzwerk vor, oder gebe Tipps zu  neuen Tools, Apps und Techniken, die mir in der täglichen Arbeit begegnen.

Wenn du nun neugierig geworden bist, kannst du dich hier anmelden:

 

 

 

 

Im Gespräch mit Alexis Katechakis über Nachhaltigkeit – Teil 2

Dieses Interview ist die Fortsetzung des Gesprächs mit Dr. Alexis Katechakis, Experte für Nachhaltigkeit und einer der Geschäftsführer von fors.earth, einer führenden Strategieberatung für Nachhaltigkeit in Deutschland. Im ersten Teil haben wir Nachhaltigkeit definiert, über planetare Grenzen und Kipppunkte gesprochen und aufgezeigt, warum sich eine nachhaltige Unternehmensstrategie lohnt. Dieses Gespräch findest du hier.

Im zweiten Teil geht es darum, wie nachhaltige Unternehmensstrategien aussehen können und welche Ziele damit für die Unternehmen und für uns als Gesellschaft angestrebt werden.

Alexis, was steckt hinter einer nachhaltigen Unternehmensstrategie?

Ich möchte mit einem Beispiel beginnen. Ein Automobilhersteller kann sich fragen, welche Antriebsarten vor dem Hintergrund des Klimawandels noch Zukunft haben. Wir haben zum Beispiel bei Volkswagen dazu beigetragen, dass man nun die Elektromobilität vorantreibt. Noch weiter in die Zukunft geblickt, stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch Autos verkaufen will, oder eher Mobilitätsdienstleistungen. Ein anderes Beispiel: Ein Hersteller von Nahrungsmitteln steht heute vor der Herausforderung, Ernährung so mitzugestalten, dass sie gesund, bezahlbar und zudem nach ökologischen und sozialen Kriterien verantwortungsvoll produziert ist. Schmecken soll es natürlich auch noch. Alles unter einen Hut zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Sie zu lösen braucht nicht nur Innovationskraft. Es sind auch strategisches Geschick und Partnerschaften notwendig, um am Ende die richtigen Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort anzubieten.

Ähnliche Transformationsprozesse begleiten wir auch in anderen Branchen: Energie, Chemie, Immobilien, Finanzen, im Tech-Bereich und seit Kurzem auch im Sport.

Eine der zentralen strategischen Fragen, mit denen wir uns hierbei beschäftigen, ist: Wie können wir unseren Kunden dabei helfen, ihr Kerngeschäft wettbewerbs- und zukunftsfähig aufstellen? Wettbewerbsfähig im Hinblick darauf, was ein Unternehmen kann, welche Expertise und Erfahrung es hat, welche originären Ziele es verfolgt – die „Inside-out-Perspektive“. Zukunftsfähig aus Sicht der zunehmenden Erwartungen der Gesellschaft, dass ein Unternehmen Lösungen zu Nachhaltigkeitsherausforderungen beitragen, einen Nutzen generieren soll – die „Outside-in-Perspektive“. Wie beides zusammenhängt, darüber sprachen wir bereits im ersten Teil des Interviews. Unternehmen, die diese Zusammenhänge ignorieren oder sich nicht schnell genug entwickeln, laufen Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten. Heute gilt: „No business is too big to fail.“. Nicht mehr akzeptierte bzw. gesellschaftlich nicht mehr gewollte Geschäftsmodelle müssen unter Umständen aufgegeben werden. – Wer den Puls der Zeit verpasst, verschwindet vom Markt. Das gilt auch für das Nachhaltigkeitsthema. Das hat massive Veränderungen zur Folge, insbesondere für die Rolle der Führungskräfte und Unternehmenslenker.

Welche Herausforderungen muss das Unternehmen denn meistern auf dem Weg zu einer nachhaltigen Unternehmensstrategie?

Die größte Herausforderung besteht darin, die gesellschaftlichen Erwartungen und politischen Ziele auf den unternehmerischen Kontext und in ökonomischen Erfolg zu übersetzen.

Wie funktioniert das? Wie helft ihr Unternehmen konkret, um zu einer nachhaltigen Unternehmensstrategie zu kommen? Wie arbeitet ihr von fors.earth mit den Unternehmern zusammen?

Wir beginnen in der Regel mit internen Analysen. Wir möchten verstehen, was ein Unternehmen oder eine Organisation in Sachen Nachhaltigkeit antreibt. Warum wollen sie das Thema strategisch angehen? Wo stehen sie bereits? Haben sie schon ein konkretes Ziel? Hierauf basierend schärfen wir die Ausgangslage, Zielsetzung und Stoßrichtung, Uns ist dabei die Ernsthaftigkeit sehr wichtig, wirklich einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft leisten zu wollen. Rein wirtschaftliche oder kommunikative Gesichtspunkte genügen uns nicht.

Im nächsten Schritt betrachten wir das Umfeld des Unternehmens und führen Wesentlichkeitsanalysen durch. Wir arbeiten kurz gesagt heraus, auf welche der vielen Nachhaltigkeitsthemen das Unternehmen aus seinem Kerngeschäft heraus überhaupt einen Einfluss hat. Wo kann es einen positiven Beitrag leisten? Und wir schauen, welche Erwartungen die Stakeholder diesbezüglich an das Unternehmen haben: Kunden, Geschäftspartner, die eigenen Mitarbeiterinnen, NGOs, die Gesellschaft im Allgemeinen. Idealerweise können wir aus beiden Perspektiven eine Schnittmenge bilden.

Wir sehen uns auch an, was der Wettbewerb macht und welche rechtlichen Rahmenbedingungen es gibt bzw. welche zu erwarten sind.

Diese Umfeld- und Wesentlichkeitsanalysen sind sehr wichtig, um sich auf die richtigen Themen zu fokussieren und die verfügbaren personellen und budgetären Ressourcen optimal einzusetzen. Die Planetary Boundaries, über die wir bereits im ersten Interview gesprochen haben, und die sogenannten Sustainable Development Goals oder SDGs der Vereinten Nationen sind dabei leitgebend für uns.

Basierend auf den Ergebnissen entstehen konkrete Zielbilder, Ambitionsniveaus und Handlungsfelder, die in der Regel mit den Geschäftsleitungen abgestimmt werden.

Wir berücksichtigen hierbei die gesamte Wertschöpfungskette und sehen uns die Lebenszyklen der Produkte genau an. So kann sich zum Beispiel herausstellen, dass der Produktionsprozess einen sehr viel kleineren Einfluss auf Nachhaltigkeitsparameter hat als die Phase der Nutzung durch den Endverbraucher. Oder dass die großen Hebel in der Lieferkette liegen. Es ist ein großer Schritt und ein Erfolgserlebnis für uns, wenn ein Unternehmen für die gesamte Wertschöpfungskette Verantwortung übernimmt – von der Rohstoffgewinnung über die Zulieferung und Produktion bis hin zur Nutzungsphase und einer möglichen Wiederverwertung.

Bei strategischen Entscheidungen steht auch die Frage im Raum, ob dem Unternehmen die rechtliche und gesellschaftliche Akzeptanz genügen, oder ob es den Anspruch hat, im Wettbewerb Benchmark zu sein und sich mit den verfügbaren Stellschrauben für eine nachhaltige Entwicklung im Markt zu positionieren und sich damit auch von der Konkurrenz zu differenzieren.

„Es ist ein Missverständnis, dass nachhaltiges Verhalten mit Transparenz gleichzusetzen sei. Viele Dinge passieren hinter den Kulissen und werden nicht nach außen getragen. Nachhaltigkeit ist in vielen Branchen zum Wettbewerbsfaktor geworden.“

Du hast die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen gerade angesprochen. Was hat es damit auf sich?

Die Vereinten Nationen haben 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten Sustainable Development Goals oder SDGs, definiert, an denen wir uns orientieren. Sie sind mit derzeit 169 Unterzielen hinterlegt, welche die Leitplanken für unsere gesellschaftspolitische Entwicklung bis 2030 setzen. Die SDGs sind als Spezifizierung oder Weiterentwicklung der Brundtland-Definition von Nachhaltigkeit zu verstehen und lassen sich drei Bereichen zuordnen: Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft. Das SGD 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“, eint alle Dimensionen und unterstreicht, dass eine Erreichung der Ziele nur gemeinschaftlich möglich sein wird.

Zum Teil handelt es sich noch um Absichtserklärungen. Die Ziele konkretisieren sich aber immer weiter und finden zum Beispiel auch im Green Deal, der EU-Taxonomie oder im Entwurf zum Lieferkettengesetz ihre rechtlichen Ausprägungen. Unsere Aufgabe ist, diese gesellschaftspolitischen Ziele betriebswirtschaftlich greifbar zu machen.

Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/nachhaltigkeitsziele-verstaendlich-erklaert-232174

Für Unternehmer ist es wichtig zu verstehen, dass die drei Ebenen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, sondern Teil eines Ganzen sind. Nur aus diesem Verständnis heraus können Entscheidungen gefällt werden, die das Unternehmen tatsächlich nachhaltiger machen und unsere Freiheitsgrade wieder vergrößern. Die Kunst ist, den Mittelweg zu finden zwischen „business as usual“ und „100% nachhaltig“, damit sich das Unternehmen weiterhin innerhalb des Aktionsraums bewegt, in dem seine wirtschaftliche Handlungsfähigkeit gewahrt bleibt. Und weil das Feld dynamisch ist, müssen sich die Unternehmen immer wieder neu orientieren und die nächsten Schritte planen. Keine leichte Aufgabe, aber dafür gibt es ja uns.

Kannst du an ausgewählten Beispielen die unterschiedlichen Ansätze klar machen?

 Sehr gerne! Nehmen wir ein Beispiel aus der Energiebranche: Ein Energieerzeuger kann sich entscheiden, weiter auf fossile Energieträger zu setzen, auch wenn klar ist, dass er damit zum Klimawandel beiträgt. Das wird auf Dauer nicht gutgehen, wie man an den großen Energieunternehmen sieht. Sie laufen Gefahr, sich in den „Nicht-Nachhaltigkeitsraum“ zu katapultieren, wo es irgendwann keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr gibt und es dann auch mit der „License to operate“ durch den Gesetzgeber nicht mehr klappt. Das Unternehmen könnte sich auch entscheiden, von einem Tag auf den anderen nur noch auf regenerative Energien zu setzen. Dies birgt aber ob der langen Planungszyklen und Amortisationszeiten betriebswirtschaftliche Risiken. Mit der MVV Energie haben wir vor Jahren einen Mittelweg gezeichnet, der einen sukzessiven Transformationsprozess hin zu mehr Nachhaltigkeit ermöglicht.

Dann gibt es Unternehmen, die ursprünglich nicht gegründet wurden, um selbst Profit zu machen, sondern um andere Geschäftskonzepte nachhaltiger zu gestalten. Streetscooter ist ein Beispiel: Die Deutsche Post wollte Elektroautos mit spezifischen Anforderungen für ihre Auslieferungsflotte, um ihre CO2-Emissionen zu senken. Die etablierten Automobilhersteller sind darauf nicht eingestiegen. Also hat die Post das Konzept mit der RWTH Aachen durchgezogen und zwar so erfolgreich, dass nun auch Nachfrage anderer nach diesen Modellen besteht.

Schließlich gibt es Unternehmen, deren Unternehmenszweck direkt an die Nachhaltigkeit gekoppelt ist. Hier helfen wir bei der Geschäftsfeldentwicklung. Als Beispiel möchte ich agrilution nennen, die wir seit ca. 8 Jahren begleiten. Das Unternehmensziel ist die dezentrale und nachhaltige Nahrungsmittelproduktion im urbanen Raum. Das Produkt ist der „Plantcube“, in dem man im eigenen Haushalt Kräuter und Salate züchten kann, gesteuert über das Smartphone. Agrilution wurde inzwischen von Miele gekauft. Ein weiteres Beispiel in dieser Kategorie ist Veramaris. Bei diesem Unternehmen geht es darum, Aquakultur nachhaltiger zu machen: Statt Fische im Meer zu fangen, diese zu Fischöl zu verarbeiten und dann in der Fischzucht an andere Fische zu verfüttern, hat Veramaris einen Weg gefunden, Fischöl durch Algenöl zu ersetzen. Die Algen können in großen Tanks kultiviert werden. Damit besteht die Möglichkeit, zum Beispiel Lachszucht zu betreiben, ohne marine Ressourcen auszubeuten. Wenn man solche neuen Geschäftsmodelle etablieren möchte, muss die gesamte Wertschöpfungskette an einem Strang ziehen – SGD 17. Im Fall von Veramaris haben wir Futtermittelhersteller, Farmer, Logistiker und Händler an einen Tisch gebracht. Das ist noch nicht die Garantie für Erfolg. Natürlich muss sich das am Ende auch für alle rechnen. Wirtschaftliche Aspekte spielen eine große Rolle. Und es hilft, wenn man eine gewisse Marktmacht hat. Hinter Veramaris stehen DSM und Evonik, zwei weltweit agierende Unternehmen die gemeinsam 15% des weltweiten Aquakulturmarktes beeinflussen können.

In der Regel arbeiten wir aber mit etablierten Unternehmen, die sich in Sachen Nachhaltigkeit und Corporate Responsibility weiterentwickeln wollen, weil sie spüren, dass Ansätze wie Corporate Citizenship, d.h. ein Fokus auf Spenden und Sponsoring, oder die Arbeit mit Umweltmanagementsystemen oder reine Berichterstattung nicht mehr genügen. Sie wollen oder müssen die Themen ins Kerngeschäft bringen, d.h. auf die Ebene ihrer Produkte und Dienstleistungen. Kaufland ist ein solches Beispiel. Hier liegt der große Hebel im Sortiment, das sukzessive nach klar definierten Kriterien nachhaltiger gestaltet wird. Ein Beispiel aus dem öffentlichen Sektor sind die Deutschen Jugendherbergen, die auf dem besten Wege waren, sich zu einem Hotelleriebetrieb zu entwickeln, und die sich mit uns auf den Kern ihrer Satzung zurückbesonnen haben und sich jetzt verstärkt auf das Thema nachhaltige Bildung konzentrieren – etwas was Hotels üblicher Weise nicht machen.

Wie gestaltet Ihr diese Veränderungsprozesse? Wie bringt Ihr den Zug ins Rollen?

Es ist entscheidend die Menschen zu erreichen. Uns ist es wichtig, nicht nur Prozesse zu etablieren, sondern auch ein Bewusstsein der Akteure für die Themen zu entwickeln und ihre innere Haltung zu beeinflussen, den Willen zu erzeugen, ganze Systeme gemeinsam nachhaltiger zu gestalten. Das wirkt sich über die Zeit auf die Unternehmenskultur aus und von da an passieren viele Dinge von alleine.

Ein wichtiger Erfolgsfaktor sind Führungskräftetrainings zum Thema Nachhaltigkeit und der strategischen Relevanz. Jede Führungskraft ist ja in erster Linie Mensch und Teil der Gesellschaft. Wir vermitteln den Managerinnen und Managern die Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen für ihr eigenes Leben und für ihr Umfeld. Dann zeigen wir ihnen auf, dass sie im Unternehmen Hebel haben, die sie bewegen können, um den Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigen Entwicklung aktiv mitzugestalten. Nicht nur zum Wohle der Gesellschaft, sondern auch für das eigene Unternehmen und letztendlich für sich selbst, den Menschen, die ihnen nahe sind.

Veränderungen in diesem Bereich können durch einzelne Menschen im Unternehmen angestoßen werden. Und wenn der Zug erst einmal ins Rollen gekommen ist, wie Du sagst, ist er häufig nicht mehr zu stoppen. Dann gibt es kein Zurück mehr.

Wir wollen damit erreichen, dass Eigendynamiken entstehen, die über die eigenen Werkstore hinausreichen und entlang von Wertschöpfungsketten im In- und Ausland wirken – bis hin zu Wertschöpfungsnetzen mit Quervernetzungen multipler Branchen. Dabei kommen Mechanismen in Gang, welche die Entwicklung hin zur Nachhaltigkeit verstärken.

Unser größtes Projekt in diesem Zusammenhang ist bislang das #Project1Hour, das wir mit Volkswagen entwickelt und umgesetzt haben: Anlässlich des Earth Day haben sich alle 660.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Konzerns weltweit 1 Stunde mit dem Thema Klimawandel beschäftigt, ihren eigenen CO2-Fußabdruck berechnet und gemeinsam überlegt, was sie persönlich und im Team gegen die Klimaveränderung tun können. Hieraus entstehen derzeit viele weitere Projekte, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einbringen – sowohl kleine Maßnahmen, die andere inspirieren sollen, als auch große, wo sich zum Beispiel ganze Geschäftseinheiten mit Tausenden von Angestellten gemeinsame und persönliche Ziele setzen.

Seid ihr eigentlich eine klassische Unternehmensberatung? Wo wollt ihr denn selbst noch hin?

Unser Ziel als fors.earth ist es, vernetzter zu arbeiten und das Geschäft international auszubauen. Wir wachsen stetig und haben trotzdem keine klassischen Organisationsstrukturen. Es ist vielmehr so, dass wir dezentral und möglichst hierarchiefrei arbeiten und uns immer wieder neu erfinden. Wir verstehen uns als Plattform, auf der man neue Ideen entwickeln kann und wo jeder Verantwortung übernimmt. Wichtig ist uns, dass wir unsere Zeit und unsere Expertise so einsetzen, dass wir Wirkung entfalten.

Akquise machen wir kaum. Die Kunden kommen in der Regel zu uns. Wir stellen dann immer häufiger die Frage, warum wir für sie arbeiten sollten. Denn unser Claim ist: „Wir arbeiten für die, die es ernst meinen.“  Dahinter stecken für uns zwei Aspekte: Zum einen wollen wir sehen, dass sich ein Unternehmen entwickelt. Es darf gerne länger dauern, aber wenn es nur darum geht, punktuell einzelne Projekte zu machen, um eine gute Story für das Marketing oder die PR zu generieren, dann steigen wir aus. Das andere ist Wirkung. Daher arbeiten wir gerne mit großen Unternehmen zusammen, denn wenn diese sich verändern, dann hat das „Wumms“, also messbare Auswirkungen auf den Markt weltweit.

Lieber Alexis, ich danke dir, dass du dir so viel Zeit für diese Vorlesung in Sachen Nachhaltigkeit genommen hast, ein Thema das meinen Lesern so wichtig ist, dass sie es auf die Wunschliste 2021 gesetzt haben.

Das habe ich gerne gemacht, denn auch für mich ist es ein Herzensanliegen!

Vorgestellt – Dr. Alexis Katechakis

Alexis hat Biologie und Sustainable Resource Managament an den Universitäten Göttingen, Kiel und München studiert. Nach mehrjähriger Tätigkeit am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel (GEOMAR) wechselte er in die Wirtschaft und sammelte Erfahrung als Pressesprecher, PR-Berater und Investor Relations Manager mit Fokus auf Produkt-, Unternehmens- und Krisenkommunikation. Heute ist er Geschäftsführer von fors.earth, einer führenden Strategieberatung für Nachhaltigkeit in Deutschland. Seine Schwerpunkte sind CR-Strategieentwicklung, Change Management, Trainings, Workshops und Moderation. Und wenn dann noch Zeit ist, bietet er mit „Into the Wild“ naturkundliche Exkursionen zwischen Ammersee und Andechs an, nicht nur für Unternehmensvertreter.

Weitere Informationen zum Angebot von fors.earth gibt es im Internet unter: https://www.fors.earth/de/home.html

Alexis ist zu erreichen unter: alexis.katechakis@fors.earth

Dieses Interview ist Teil meiner Serie “Im Gespräch mit…” von und für Menschen, die inspirieren, vernetzen, verändern und eine positive Einstellung ins Leben tragen.

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Im Gespräch mit Dr. Alexis Katechakis über Nachhaltigkeit – Teil 1

Dem Menschen mit dem ich heute zum Gespräch verabredet bin, wurde die Liebe zur Natur in die Wiege gelegt: Sommerurlaube bei den Großeltern auf der Insel Kreta wecken sein Interesse an Biologie und der Wildnis. Mit 16 Jahren verbringt er Zeit in Camp Celo, inmitten der Blue Mountains North Carolinas. Jetzt faszinieren ihn die größeren Zusammenhänge. Er verschlingt die wissenschaftliche Arbeit „Limits to growth“, über die Lage der Menschheit, die in den 70er Jahren im Auftrag des Club of Rome am Massachusetts Institute of Technology erstellt wird und Furore macht. Zum ersten Mal werden auf Basis von Computersimulationen die globalen Auswirkungen individuellen Handelns beschrieben. Die Szenarien geben die Stoßrichtung vor, die heute noch weitgehend Gültigkeit hat. Das ist für Alexis die Initialzündung, um sich mit Nachhaltigkeitsthemen auseinander zu setzen, auch wenn der Begriff erst viel später wirklich an Bedeutung gewinnen wird. In seiner Diplom- und Doktorarbeit beschäftigt er sich mit Nährstofflast und Nährstoffstöchiometrie im Meer und der Frage, wie lange sich dieses von Menschen beeinflusste System stabil verhält und wann es kippt. Er sagt: „Ich glaube es gibt Dinge, die schon immer in einem drin sind und die man findet, wenn man in sich hineinhört. So ist es bei mir mit der Nachhaltigkeit. Mich hat nicht mehr losgelassen, dass alles mit allem zusammenhängt und so wurde meine Reise immer konkreter.“ Heute ist Dr. Alexis Katechakis einer der Geschäftsführer von fors.earth, einer führenden Strategieberatung für Nachhaltigkeit in Deutschland.

Alexis, ich habe den Eindruck der Begriff Nachhaltigkeit ist auf dem besten Wege das gleiche Schicksal zu erleiden wie die „Ganzheitlichkeit“: Abnutzung durch inflationären Gebrauch. Lass uns doch zum Einstieg klären, wie Nachhaltigkeit tatsächlich definiert ist.

Sehr gerne! Die sogenannte Brundtland-Definition der Vereinten Nationen lautet: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Möglichkeit zukünftiger Generationen einzuschränken, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.“

Darin stecken verschiedene Aspekte, nämlich zum einen die Definition des Begriffs „Bedürfnisse“, mit dem nicht etwa die materiellen Dinge gemeint sind, die wir in den Industrienationen als selbstverständlich ansehen, sondern Grundbedürfnisse eines jeden Menschen, um ein gutes Leben zu führen. Konkret heißt das: Ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, Zugang zu Bildungs- und Gesundheitssystemen und soziale Vernetzung. Kurzum, alles was uns als Mensch ausmacht, mit dem Gedanken, dass sich darum niemand sorgen sollte.

So wie wir uns allerdings heute verhalten, geht es häufig entweder zu Lasten anderer Menschen oder zu Lasten der Natur bzw. unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Der zweite Aspekt, der in der Brundtland-Definition steckt, ist der intergenerationelle Aspekt. Daraus geht die Verantwortung für zukünftige Generationen hervor. Insofern ist die Definition eigentlich ein Leitbild oder eine Vision.

Klassische Fragen, die mit Nachhaltigkeit verbunden sind, lauten etwa: Was sind unsere Lebensgrundlagen? Wie können wir sie erhalten? Wie kann man sie messen und wo wirken verschiedene Arten von Kipppunkten? Wie lange bleibt das System stabil und ab wann reagiert es unvorhersehbar?

Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang sind die sogenannten planetaren Grenzen, die «Planetary Boundaries». Es wurde 2009 von einem Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Johan Rockström am Stockholm Resilience Centre veröffentlicht. Darin stecken Parameter wie Klimawandel und Meeresversauerung, Artenvielfalt und die Funktionsweise von Ökosystemen – die ein großes Thema sind mit vielen ungeklärten Fragen – aber auch die Freisetzung von neuartigen Substanzen, die wir im Laufe der letzten Jahrzehnte erfunden haben, deren Einfluss wir aber bis heute nicht quantifizieren können.

Planetary Boundaries – Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Stockholm University

Du hast gerade von den Kipppunkten gesprochen. Was passiert denn, wenn wir diese überschreiten?

In vielen Bereichen wissen wir dies noch nicht. In anderen sehr gut. Wir wissen inzwischen zum Beispiel sehr genau, wie und ab wann der vom Menschen verursachte Klimawandel lebenserhaltende Systeme beeinflusst und das tut er ja bereits. Wir können voraussagen bzw. beobachten, wie sich erhöhte Temperaturen auf die Gletscherschmelze, das Absterben von Korallenriffen oder den Jet-Stream auswirken. Die Frage, die sich stellt, ist, können wir noch zum „alten“ stabilen System zurückkehren, oder wird ein alternatives stabiles System entstehen? Auf das Klima bezogen kann dies im Extrem zu einer sogenannten Hothouse Earth führen, einer Heißzeit auf der Erde. Ob diese für uns dann noch in dem Maße bewohnbar wäre, wie heute, ist schwer zu sagen.

Allgemein wird wissenschaftlich gerade diskutiert, ob bereits ein anderes Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän. Wir leben ja bislang im Holozän, das nach der letzten Eiszeit vor ca. 12 000 Jahren begonnen hat. Das ist quasi der Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte, in dem wir uns von Jägern und Sammlern über die Seßhaftwerdung und Industrialisierung zu unseren heutigen Gesellschaftsformen entwickelt haben, mit denen viele Nachhaltigkeitsprobleme entstanden sind. Die Wissenschaft diskutiert also jetzt, ob wir durch unser Handeln das System bereits soweit beeinflusst haben, dass man erdgeschichtlich von einem neuen Zeitalter sprechen kann. Die Entscheidung darüber soll noch in diesem Jahr anstehen.

Wie können wir denn verhindern, dass die planetaren Grenzen überschritten werden?

Alles beginnt mit den Fragen: Wie leben wir, welche Ansprüche haben wir und wofür sind wir am Ende auch bereit, Geld auszugeben, was ist uns was wert? Viele lebenserhaltende Leistungen, sogenannte Ökosystemleistungen oder «Ecological Services» sind zum Beispiel nicht in unser Wirtschaftssystem eingepreist. Wir zahlen in der Regel nichts für saubere Luft, sauberes Wasser oder gesunde Böden. Wir gehen davon aus, dass sie einfach zur Verfügung stehen. Obwohl sie für unser Überleben elementar sind, berücksichtigen wir die Kosten für ihren Schutz und ihren Erhalt kaum. Man spricht deshalb in der Ökonomie auch von «Externalitäten». Wenn man solche Ökosystemleitungen internalisieren würde, hätte dies Einflüsse auf die Preise von Gütern und Konsummuster. Und es würden neue Geschäftsmodelle entstehen: Landwirte würden dafür bezahlt werden, Biodiversität, also Lebensvielfalt, zu schützen. Forstbetriebe und Waldbesitzer bekämen dafür Geld, dass Bäume CO2speichern und Waldboden Wasser filtert, usw..

„Penny“ hat kürzlich in einzelnen Läden den Versuch unternommen, neben dem regulären Preis seiner Produkte einen „true cost“-Preis auszuzeichnen. Dieser hat die Ausgaben für das Ökosystem oder soziale Dienstleistungen mitberücksichtigt. Ziel war zu schauen, ob es die Kaufentscheidung der Kunden beeinflusst. Dies ist ein Beispiel für Entwicklungen, die jetzt immer mehr kommen.

Die zentrale Frage ist, wie wir unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme so gestalten können, dass sie möglichst stabil und resilient sind, das heißt, auch nach Störungen wieder in einen für uns lebenswerten Zustand kommen.

„Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir zwar viele unserer lebenserhaltenden Systeme kennen, aber nicht genau wissen, wo die planetaren Grenzen tatsächlich liegen.“

Aber wir können viele Bereiche inzwischen sehr gut modellieren und wissen daher, in welche Richtung wir uns bewegen müssen. Die Rechenkapazität, die uns heute zur Verfügung steht, erlaubt es uns, immense Mengen an Daten zu sammeln und global miteinander zu vernetzen. Dies ermöglicht es uns, Wirkzusammenhänge darzustellen, Dynamiken zu erkennen und Rückkopplungsschleifen aufzudecken, also sich selbst verstärkende oder abschwächende Prozesse.

Shell hat beispielsweise schon 1988 eine Studie in Auftrag gegeben, ‘The Greenhouse Effect’, in der die Folgen eines „business as usual“ für das Klima sehr genau vorausgesagt wurden. Diese Folgen spüren wir jetzt immer deutlicher. Shell hat die Studie damals dennoch unter Verschluss gehalten und entschieden, erst einmal wie gehabt weiterzumachen.

Nicht zuletzt lernen wir natürlich auch aus Erfahrung. Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht, aus denen wir Konsequenzen gezogen haben. Der Zusammenhang zwischen FCKWs und dem Ozonloch zum Beispiel. Hier war es noch relativ einfach gegenzusteuern, weil der politische Wille stark war und es nur wenige Hersteller gab. 

Warum brauchen wir deiner Ansicht nach eine Diskussion über planetare Grenzen und Nachhaltigkeit auch in Unternehmen?

Zwei wesentliche Änderungen sind in den letzten Jahren massiv spürbar. Erstens, das Bewusstsein für diese Themen und die Zusammenhänge steigt in der Gesellschaft. Das erkennt man schon daran, welchen Raum sie in der medialen Berichterstattung inzwischen einnehmen, auch wenn das derzeit von Corona etwas überlagert wird. Die Themen sind im Fokus der Gesellschaft.  Die Motivation sich damit zu beschäftigen kommt daher, dass der Druck steigt. Wir erkennen, dass wir in einem geschlossenen System leben, von dem wir abhängen. Außer der Energie, die von der Sonne und damit von außen kommt, sind die Ressourcen auf diesem Planeten die einzigen die wir haben. Wir spüren das an verschiedenen Enden und damit werden die Themen auch für den einzelnen Menschen bedeutsamer. 

Der Preis, den wir für unseren Wohlstand zahlen ist, dass wir uns selbst zunehmend unsere Freiheitsgrade einschränken: Global betrachtet hat der Wohlstand zwar zugenommen, die Lebensqualität hat sich verbessert, trotz Bevölkerungswachstum. Das Ganze hat aber eine Kehrseite. Denn unser materielles Wachstum geht zu Lasten von natürlichen Ressourcen, der Regenerationskraft der Erde und auch sozialer Systeme. Im Großen und Ganzen geht der Lebensstil in den Industrienationen auf Kosten der Menschen in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern.  Dies wird immer weniger akzeptiert.

„Die Herausforderung vor der wir als Gesellschaft aber auch als Unternehmer stehen ist, wie wir unsere Freiheitsgrade wieder erweitern können.“

Es ist zweitens unsere Überzeugung und spiegelt unsere Erfahrung wider, dass zunehmend jene Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich sein werden, die Lösungen zu Nachhaltigkeitproblemen beitragen .

In den letzten Jahren erkennen immer mehr Unternehmen die strategische Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen für ihren Geschäftserfolg, für ihre Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Es geht nicht mehr «nur» um Spenden und Sponsoring, um das Einhalten rechtlicher Vorgaben oder Berichterstattung. Es geht um die Frage, welchen Mehrwert, welchen Nutzen, ein Unternehmen mit seinen Produkten und Dienstleistungen stiftet. Das ist auch der Grund, warum wir 2016 fors.earth gegründet haben. Weil wir festgestellt haben, dass Nachhaltigkeitsthemen in den Unternehmen einen anderen Reifegrad erreicht haben und strategisch angegangen werden müssen. Es geht dabei um Transformation, konkret um die Beantwortung der Frage, was ich aus meinem Kerngeschäft heraus im Sinne der Nachhaltigkeit Positives leisten kann, wie ich Nutzen, einen Mehrwert für meine Gesellschaft schaffen kann

Ein Problem für Unternehmen – zusätzlich zur Komplexität der Themen und ihrer Zusammenhänge – ergibt sich aus der beschleunigten Dynamik und nicht-linearen Zusammenhängen. Abzuwarten und später zu entscheiden wie man handeln will, das geht heute nicht mehr. Es erfordert Mut, ohne alle Zahlen, Daten und Fakten zu kennen, in eine neue Richtung zu steuern, das „Richtige” zu tun.

Was haben Unternehmer davon so mutig ins Ungewisse zu springen?

Wir bei fors.earth erklären das gerne mit dem „systemischen Wert“. Dieser bemisst sich als Quotient aus Nutzen und Fußabdruck. Je größer der gesellschaftliche und ökologische Nutzen gegenüber den gesellschaftlichen und ökologischen Kosten, desto größer ist die Wertschöpfung und damit der wirtschaftliche Erfolg.

Das erfordert natürlich einen Blick in die Zukunft, um genau die Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die im sich verändernden Umfeld der Nachhaltigkeitsherausforderungen tatsächlich gebraucht werden.

Einzelne Unternehmen schließen strategisch eine Wette auf die Zukunft ab, Tesla beispielsweise. Sie sagen: „Wir sehen wo die Reise hingeht. Wir investieren, auch wenn sich das wirtschaftlich erst einmal noch nicht rechnet. Wir haben das Vertrauen, dass wir irgendwann in den wirtschaftlich lukrativen Bereich kommen werden.“ Das ist, was gerade tatsächlich passiert.

Mit diesem proaktiven Blick in die Zukunft wird ein Unternehmen auch von gesetzlichen Rahmenbedingungen – die sich weiter verschärfen – nicht so hart getroffen wie andere, die diese proaktive Haltung nicht einnehmen.

Des Weiteren klappt es mit einer Strategie, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, auch besser mit der gesellschaftlichen Akzeptanz. Und schließlich ist es schlicht auch eine Frage der Finanzierung, denn Investoren achten natürlich darauf, Unternehmen zu unterstützen die wettbewerbs- und zukunftsfähig sind. Unternehmen, die sich in puncto Nachhaltigkeit fit machen, sind für immer mehr Investoren besonders interessant.

Treffen denn Konsumenten heute schon eine bewusste Kaufentscheidung für Produkte von Unternehmen mit strategischem Nachhaltigkeitsansatz?

Das ist der Wunsch, aber es ist leider nach wie vor die Ausnahme. Nichtsdestotrotz beobachten wir eine zunehmende Erwartung von Verbrauchern, dass Produkte und Dienstleistungen bestimmte Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Konsumenten reagieren zunehmend sensibel darauf, wie, wo und von wem Produkte hergestellt werden, wo die Ressourcen dafür herkommen, welche Auswirkungen die Nutzung auf Umwelt und/oder Gesellschaft hat und ob ein Produkt am Ende entsorgt wird oder recycelt werden kann.

Dies führt aber nicht zwingend zu einer bewussten Entscheidung oder gar einer höheren Zahlungsbereitschaft für derartige Produkte. Insbesondere, wenn sie mit konventionellen Angeboten konkurrieren müssen. Dann braucht es persönliche Überzeugungen oder besondere Qualitätsmerkmale, die eine Kaufentscheidung günstig beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist auch die „consumer convenience” wichtig. Es muss dem Konsumenten leicht gemacht werden, nachhaltigere Produkte zu nutzen.

Ganz abgesehen davon gibt es „das“ nachhaltige Produkt eigentlich nicht. Denn ehrlicherweise ist es für ein Unternehmen sehr schwierig nachhaltig zu sein. Es kann aber sehr wohl zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Dies dem Konsumenten zu vermitteln, um die Kaufentscheidung zu beeinflussen oder ganz in Frage zu stellen, ist nicht trivial. Gütesiegel – wie etwa bei der Bioware – gibt es dafür nicht.

Letztlich kann ein Unternehmen aber immer beeinflussen, welche Leistungen oder Waren es anbietet. Eine Supermarktkette kann sich beispielsweise entscheiden, nur noch Produkte zum Kauf anzubieten, die gut definierte Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Damit nimmt man dem Kunden quasi die Entscheidung ab.

Wow, das war jetzt schon sehr viel Input. Ich danke dir lieber Alexis und schlage vor, wir machen hier eine Pause und setzen das Gespräch im nächsten Blogbeitrag fort.

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Vorgestellt – Dr. Alexis Katechakis

Alexis hat Biologie und Sustainable Resource Management an den Universitäten Göttingen, Kiel und München studiert. Nach mehrjähriger Tätigkeit am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel (GEOMAR) wechselte er in die Wirtschaft und sammelte Erfahrung als Pressesprecher, PR-Berater und Investor Relations Manager mit Fokus auf Produkt-, Unternehmens- und Krisenkommunikation. Heute ist er einer der Geschäftsführer von fors.earth, einer führenden Strategieberatung für Nachhaltigkeit in Deutschland. Seine Schwerpunkte sind CR-Strategieentwicklung, Change Management, Trainings, Workshops und Moderationen. Und wenn dann noch Zeit ist, bietet er mit „Into the Wild“ Naturkundliche Exkursionen zwischen Ammersee und Andechs an, nicht nur für Unternehmensvertreter.

Weitere Informationen zum Angebot von fors.earth gibt es im Internet unter: https://www.fors.earth/de/home.html

Alexis ist zu erreichen unter: alexis.katechakis@fors.earth

Im Gespräch mit: Dominic Hippert – über soziales Management

Der Walk of Care hat soeben ein Solidaritätsvideo veröffentlicht und damit die Initiative #gibuns5 gestartet. Prominente und Pflegende machen dabei gemeinsam darauf aufmerksam, dass eine gut aufgestellte Pflege für uns alle wichtig ist. Das folgende Interview zeigt, wie soziales Management zu einer guten Situation in der Pflege beiträgt. Mein Interviewpartner, Dominic Hippert, unterstreicht  im Gespräch die Forderung nach mehr Unterstützung für das Personal in der Pflege.

Mein heutiger Gesprächspartner ist ein südkoreanisches Findelkind, das im Alter von 7 Jahren von einem deutschen Lehrer-Ehepaar adoptiert wurde. Hausmusik im klassischen Stil war der Rhythmus seiner Jugend. Die Standard-Frage der Verwandtschaft mit durchwegs pädagogischem Hintergrund, „Wie können wir dir helfen?“, hat damals noch genervt. Heute ist das Helfen seine Berufung. Dominic Hippert ist Geschäftsführer der Schwarzwaldpflege in Baden-Baden, Gaggenau und Offenburg. Er beschäftigt 140 Mitarbeiter.

Dominic, wie bist du nach Deutschland gekommen?

Mein biologischer Vater ist sehr jung gestorben. In Korea ist wichtig, dass der Stammbaum fortgesetzt wird und das betrifft nur den Sohn. Meine ältere Schwester hat also nach dem Tod meines Vaters bei meinem Onkel gelebt. Ich bin bei meiner Mutter geblieben. Aber das ging wirtschaftlich einfach nicht, weil meine Mutter zu jung war. Ich bin dann auf einem Markt ausgesetzt worden und wurde gefunden und Gott sei Dank in ein Kinderheim gebracht. Nach 5 Jahren im Heim bin ich am 26. April 1974 aus Südkorea nach Deutschland gekommen und bei deutschen Eltern aufgewachsen. Meine deutschen Eltern sind wie Natan der Weise für mich, es ist nicht wichtig wer deine biologischen Eltern sind, sondern, wer dich geprägt hat. Ich hatte eine glückliche Kindheit.

1985 kam ich zurück nach Südkorea mit einem Fernsehteam der Sendereihe „Gott und die Welt“, für einen Dokumentarfilm zum Thema Adoption. Dieser Film war so erfolgreich, dass mir die Redaktion meinen Herzenswunsch erfüllt hat, meine biologischen Eltern zu suchen. 1986 sind wir daher noch einmal nach Südkorea zurückgekehrt und ich habe dort meine Wurzeln gesucht – und gefunden.

Du bist heute in der Pflege tätig: Die Schwarzwaldpflege betreut rund 800 Menschen. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das dich zu dieser Berufung hingeführt hat?

Meine Adoptiveltern waren sehr sozial eingestellt und wollten, dass meine Geschwister und ich soziale Berufe erlernen. Ich hingegen wollte immer Manager werden, ich vermute, weil ich aus armen Verhältnissen kam. Aber meine Mutter hat gesagt: „Das sind keine guten Menschen.“ Ich habe, als pubertierender junger Mann, trotzig geantwortet:

„Ich werde der erste soziale deutsche Manager!“

Es gab dann tatsächlich ein Schlüsselerlebnis. Ich hatte einen schweren Unfall in einer Druckerei. Der rechte Arm wurde mehrfach operiert und war ein Jahr lang gelähmt. Er sollte amputiert werden, aber das habe ich nicht zugelassen.

Da ich vier Mal operiert wurde, habe ich den Beruf des Krankenpflegers in dieser Zeit gut kennengelernt und entschieden, dass ich nun doch einen sozialen Beruf erlernen will. So wurde ich selbst Krankenpfleger.

Anschließend habe ich eine Ausbildung zum Pflegefachwirt gemacht und dann doch noch Management studiert an der Steinbeiß Hochschule Berlin, mit Abschluss Master of Business Administration (MBA).

Ich habe immer gesagt „mit 30 Jahren mache ich mich selbstständig“.  Das habe ich dann auch gemacht.

Und, bist du dann tatsächlich sozialer Manager geworden?

Ich habe von Beginn an überlegt wie ich meine Mitarbeiter fördern kann. Wie kann ich ihnen etwas Gutes tun? Wie kann ich selbst ein Vorbild sein? Was kann ich für meine Mitarbeiter tun?

Ich habe mich sehr früh in Bezug auf Personalentwicklung beraten lassen. Ich habe z.B. Karriereplanung für meine Mitarbeiter begonnen. Wir haben betriebliche Altersvorsorge angeboten und zwar arbeitgeberfinanziert. Das war damals in unserer Branche total unüblich, ist ja auch schon über 20 Jahre her. Ich denke, wir Unternehmer wollen natürlich auch Geld verdienen, aber wir haben auch eine soziale Verantwortung und wir können nicht immer nur streichen, wenn es wirtschaftlich schlechter läuft.

Wir haben Mütter-gerechte Arbeitszeiten eingeführt. Das heißt, die Mitarbeiterinnen hatten mit dem Kindergarten oder den Schulzeiten ihrer Kinder vereinbare Arbeitszeiten bekommen, die sie auch variabel gestalten konnten mit nur 24 Stunden Vorlauf. Die Mitarbeiterinnen konnten auch innerhalb eines Monats ihre Stundenzahl aufstocken oder zurücksetzen, wie sie es gebraucht haben.

In den Ferienzeiten haben wir Ersatz für die Kindergärten geschaffen, indem wir Kindergärten betrieblich bezahlt haben. Oder die Mütter haben Kinderbetreuung unter sich organisiert. Damals hatte ich übrigens 10 Mitarbeiter. Das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg – damals unter Walter Döring –  hat uns belobigt.

Seit damals haben sich die Zeiten geändert. Was bedeutet denn moderne Führung für dich?

Moderne Führung bedeutet für mich heute Verantwortung zu übergeben, Mitarbeiter nicht als Angestellte zu sehen, sondern als selbstständig arbeitende Menschen. Das bedeutet, dass ich Ihnen Verantwortung für ihre Entscheidungen übergebe. Sie haben dadurch mehr Handlungsfreiräume und Gestaltungsspielraum bis in die Unternehmensführung hinein. Sie dürfen mitentscheiden. Es gibt nichts Besseres als Mitspracherecht für Mitarbeiter.

„Mitbestimmungsrecht ist für mich das Hauptmerkmal moderner Führung. Freiheit im Tun für den Mitarbeiter ist wichtig.“

Magst du beschreiben, was ihr in der Schwarzwaldpflege leistet?

Wir kümmern uns um Menschen die hilfe- und pflegebedürftig sind. Unsere Kunden sind nicht nur Senioren. Unser jüngster Kunde ist Mitte dreißig – mein jüngster Freund wie ich immer sage – und querschnittsgelähmt. Um ihn kümmern wir uns schon seit 10 Jahren.

Wir pflegen derzeit mit 140 Mitarbeitern rund 800 Menschen. Pflegebedürftige kommen zu uns über Krankenhäuser, Ärzte oder Angehörige. Die meisten kommen über Empfehlung von Angehörigen oder Pflegebedürftigen selbst.

Viele wenden sich zunächst an uns, weil sie Hauswirtschaft brauchen. Der Hilfebedarf beginnt, weil sie nicht mehr kochen, putzen oder sich waschen können. Das sind Kurzeinsätze. Menschen wenden sich aber auch an uns, weil ein Schlaganfall, Herzinfarkt oder eine Krebserkrankung vorliegt. Oder weil medizinische Therapien gebraucht werden, z.B. Insulinspritzen, die sie sich selbst nicht geben können oder Wunden haben, die versorgt werden müssen.

Wer sind die Menschen, die für dich arbeiten?

In der ambulanten Pflege arbeiten wir mit Krankenschwestern und Altenpflegern, in der Hauswirtschaft mit Menschen mit entsprechender Qualifikation. Mir ist wichtig, mit Mitarbeitern zu arbeiten, die nicht problemorientiert, sondern lösungsorientiert denken und fühlen. Menschen die lösungsorientiert denken, fühlen und handeln sind positiver. Beim Bewerbungsgespräch höre ich deshalb sehr genau hin. Ich entscheide mich für einen Bewerber, weil ich sehe wie sie bzw. er denkt, z.B. nach einer Fallstudie.

Ich achte auch auf die Sprache. Ein lösungsorientierter Mensch benutzt andere Worte.

Die Erfolge mit dieser Taktik sind übrigens messbar. Die Anzahl der Kunden und der Mitarbeiter ist in den letzten Jahren stark angewachsen. Unsere Mitarbeiter reden positiv über ihren Job und selbst in der Corona-Zeit habe ich neue Mitarbeiter eingestellt.

Wir wollen ein Zeichen setzen. Wir gestalten unser Unternehmen freundlicher, weiblicher, weil die Pflege weiblich ist. Wir setzen das im Design ebenso um wie in unserer Sprache.

Die Pflege ist weiblich. Daher wird mit emotionaler Ansprache nach neuen MitarbeiterInnen gesucht. Hat auch während Corona gut funktioniert.

Das Budget im sozialen Bereich ist sehr niedrig. Vater Staat gibt zu wenig aus. Ein Land sollte sozial bleiben. Dazu gehört, dass Menschen in sozialen Berufen gut leben können und nicht das Gefühl haben, sie sind nur noch Ausputzer.

Die Zeit bei den Pflegebedürftigen wird immer knapper, weil das Budget immer knapper wird. Aber jeder, der für uns arbeitet hat die Freiheit, die Zeit beim Kunden so zu gestalten, wie es für diesen Menschen am Besten ist. Ich gängele niemanden und wenn es einmal ein paar Minuten länger dauert, dann gibt es auch keine Diskussionen. Das verstehe ich unter bedarfsorientierter Pflege mit Verantwortung.

Welches Ziel habt ihr, in der Zeit, die ihr mit Pflegebedürftigen verbringt?

Das schönste Geschenk an unsere Pflegebedürftigen ist, dass wir Freude bringen. Sie können mit uns lachen, über positive Aspekte sprechen und ihre Sorgen abgeben, so dass sie sich danach etwas leichter fühlen. Das ist nicht so einfach wie es klingt, weil man seelisch gefestigt sein muss. Meine Mitarbeiter müssen da schon viel Professionalität an den Tag legen.

Das andere ist, dass wir sanft pflegen. Was heißt das? Wir vermeiden jede hektische Bewegung und geben damit den Pflegebedürftigen ein Gefühl der Wohltat. Wir nehmen die Hektik aus unserem Tun, damit der Kunde das Gefühl hat gut betreut zu sein.

Wie erreichst du, dass deine Mitarbeiter emotional in der Balance bleiben bei diesem Job?

Menschen die einen sozialen Beruf ausüben brauchen innere Zuwendung. Wir Führungskräfte sind für unsere Mitarbeiter deshalb immer ansprechbar. Ich nenne das „zielgerichteter Smalltalk“. Ich muss innerhalb von Sekunden erkennen, in welchem Zustand sich mein Mitarbeiter befindet und dann entsprechend coachen. Das muss der Mitarbeiter nicht einmal mitbekommen. Ich stelle Fragen, kümmere mich um Bedürfnisse – z.B. bringe ich ein Wasser oder mal einen Kaffee vorbei. Ich nehme auch mal jemanden in den Arm. Für mich ist das Service für interne Kunden. Dieses Miteinander und Füreinander ist leider sehr selten in der Pflege. Aber wenn das wegfällt ist es egal wo du arbeitest, dann spielt nur noch das Geld eine Rolle. Daher ist mir das als Führungskraft so wichtig.

Gerade Mitarbeiter die sterbende Menschen pflegen brauchen selbst Beachtung. Ich stelle dann gern Fragen. Diese müssen personalisiert sein, also wirklich mit dem Mitarbeiter etwas zu tun haben. Noch besser ist es, wenn ich die Fragen mit einer „Ich-Botschaft“verbinde. Also z.B. in dem ich sage: „Haben Sie heute Nacht auch so schlecht geschlafen wie ich?“

Und wer pflegt deine Geschäftsführerseele?

Ich lese, höre Musik, das gibt mir innere Stärke. Ich tue Dinge, die mich wieder nach vorne bringen, die mir Energie geben. Ich treffe mich z.B. mit Freunden und wir sprechen nicht über die Arbeit. Ein Spaziergang in der Natur, wenn auch nur für 20 Minuten, tut gut. Ich persönlich regeneriere am besten beim Autofahren.

Lass uns über das Älterwerden in unserer Gesellschaft sprechen. Was sind deine Gedanken dazu?

Was mich traurig macht ist, dass Menschen wenn sie älter und vor allem pflegebedürftig werden als Kosten-Nutzen Faktor betrachtet werden. „Was ist das Notwendige, was wir noch tun müssen?“ Das geht in meinen Augen gar nicht, denn das ist die Generation, die dafür gesorgt hat, dass wir alle heute da stehen, wo wir stehen. Das sage ich immer unseren jungen Mitarbeitern: Diese Menschen haben unseren Weg vorbereitet.

Ich mache mit meinen Mitarbeitern Gedankenspiele. Ich sage: „Stell dir vor, deine Eltern hätten dich als kleines Kind wie einen Kosten-Nutzen Faktor behandelt. „Du bringst ja nichts, du kostest nur!“ Hätte dir das gefallen?

„Ich denke wir alle in der Pflege müssen Vorbild sein für eine menschliche Gesellschaft. Das ist für mich Pflege.“

Mir ist wichtig, dass junge Menschen das verstehen: Es geht hier nicht nur ums Geld, sondern um den Beitrag für unsere Gesellschaft, den Älteren etwas zurückzugeben. Ich gebe mir Mühe, das verständnisvoll darzulegen und auch vorzuleben, denn es hilft am meisten, mit positivem Beispiel voranzugehen, statt ständig zu jammern und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wir können auch im Rahmen unserer Möglichkeiten immer Veränderung herbeiführen.

Unternehmer können z.B. Veränderung hervorrufen, indem sie generationen-vereinende Projekte fördern. Wir haben beispielsweise ein Projekt gemacht, bei dem Schüler unseren Senioren beigebracht haben, wie man ein Mobiltelefon benutzt. Ich finde hier könnte auch der Staat mehr tun.

Hast du Wünsche an die Politik was die Situation der Pflege in Deutschland betrifft?

Politik sollte nicht nur reden, sondern auch tun. Das Sparen an Pflegekräften hat dem System nicht gut getan. Ein Blick in die Schweiz, nach Skandinavien oder in die Niederlande könnte hier gut tun.

Nachdem die Anforderungsprofile an Pflegekräfte verändert wurden, ist die Zahl der Absolventen drastisch gesunken. Menschen mit geringeren Abschlüssen haben praktisch keine Chance mehr einen Pflegeberuf zu erlernen. Das sollte unbedingt geöffnet werden, denn nicht jeder in der Pflege Tätige braucht einen akademischen Titel. Wir brauchen auch Menschen, die mit Herz und Verstand pflegen, unabhängig vom Schulabschluss.Die geistige Reife und die innere Einstellung sind da viel wichtiger. Das Berufsbild muss stärker diversifiziert werden und es müssen bessere Aufstiegschancen für Menschen mit einem geringeren Abschluss geschaffen werden. Wenn du z.B. eine Altenpflege-Helferin bist – also eine einjährige Ausbildung absolviert hast – kommst du nie mehr weiter. Da gibt es bei uns einfach zu wenig Förderung.

“Wir haben uns in der Pflege zu stark auf das Aussortieren konzentriert, ich finde wir sollten eher wieder einsortieren!”

Vielleicht müssten Politiker einmal für eine Woche mit unseren Pflegebedürftigen tauschen, dann würde sich vieles verändern. Vielleicht würden sie dann lernen, mit dem Herzen zu sehen und erkennen, dass wir als Gesellschaft auch dann noch leistungsfähig sein können, wenn wir uns vermenschlichen.

Ich musste einmal eine kirchliche Sozialstation sanieren. Ich habe gefragt, ob sie eine menschliche oder eine normale Sanierung wollen. Normalerweise schmeißt man erst mal Mitarbeiter raus. Ich dagegen habe bessere Mitarbeiter eingestellt und noch Kosten produziert. Aber ich habe das so begründet: Wir müssen erst einmal sähen, um ernten zu können. Ich habe in Menschen investiert und die Einrichtung hat viel zurückbekommen.

Welche Rolle spielt für dich Kommunikation in deinem Unternehmen?

Ich will keinen Straßenjargon in meiner Firma hören. Ich spreche das sofort an und schlage Alternativen vor. Durch dieses positive Eingreifen verändert sich die Kommunikation im Unternehmen.

Positive Wortwahl ist mir ganz wichtig. Ich frage meine Mitarbeiter ob sie sich wirklich gut fühlen, wenn ihr Partner zu ihnen sagt: „Du siehst heute aber nicht schlecht aus!“

Keine Floskeln benutzen, sondern konkret werden, auch in der Kritik. Daran kann der andere doch nur wachsen.

Die Unternehmenskommunikation ist wichtiger Bestandteil meiner Corporate Strategy, daher fördern wir die gute Kommunikation untereinander und nach außen.

Bei der Schwarzwaldpflege gehört positive Kommunikation zur Unternehmensstrategie

Hast du Tipps für Leser, die sich gerade selbstständig machen? Wo liegen die Herausforderungen aus deiner Sicht?

Ich selbst bin wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Ich hatte mir vorgenommen bevor ich 30 Jahre alt werde mein eigenes Unternehmen zu gründen. Das habe ich dann einfach gemacht und erst danach die Weiterbildung begonnen. Ist vielleicht nicht zur Nachahmung empfohlen.

Die größte Hürde ist meist das Thema Finanzen. Ich hatte die Einstellung, „Ich bin jung, dynamisch und will erfolgreich werden“ und sah das Ganze wohl etwas zu rosig. Ich habe meine finanzielle Kraft überschätzt. Erfolg bedarf guter Mitarbeiter die bezahlt werden wollen. Krisen hatte ich nicht im Fokus. Bei meiner ersten Krise musste ich dann das Auto verkaufen, das mir mein Vater geschenkt hatte, um meine Mitarbeiter halten zu können. Mein Vater war entsetzt, aber ich habe die Krise damit überwunden. Ich wollte mich auf keinen Fall unterkriegen lassen und wusste, dass ich die Mitarbeiter brauche, wenn der Aufschwung kommt. Und so war es dann auch.

Man sollte mit Krisen rechnen. Krisen passieren, oft nicht einmal selbstverschuldet, sondern durch gesetzliche Veränderungen, Zufälle die wir nicht steuern können oder wie gerade eben durch eine Pandemie. Aber man sollte gewappnet sein. Sparen ist hier das Zauberwort. Mein Tipp ist, eine finanzielle Ressource für mindestens drei Monate anzulegen.

Wichtig ist außerdem geistig mit den Aufgaben zu wachsen. Um führen zu können, muss der Geist größer werden. Man muss also ehrlich zu sich selbst sein und sich fragen, welche Fähigkeiten man selbst nicht mitbringt. Diese muss man sich dann einkaufen, sich entsprechend beraten bzw. coachen lassen.

Defizite bei sich selbst zu erkennen und rechtzeitig daran zu arbeiten ist von Bedeutung.Stichwort: Weiterbildung. Wenn ich sage: „Ich kann das noch nicht, also lerne ich es“, dann bin ich auch ein gutes Vorbild für die anderen im Unternehmen.

Als drittes würde ich die Kommunikation noch anführen. Die Sprache im Unternehmen wird oft vernachlässigt.

“Aber es ist nicht wichtig, was ich gesagt habe, sondern das, was mein Gegenüber verstanden hat.”

Ich sage in meinen Schulungen inzwischen: „Nicht interpretieren, besser nachfragen!“ Denn die Interpretation ist zu 90% falsch, weil sie von meinen eignen Erfahrungen, meiner Sozialisation und meinem Wissen abhängt. Interpretation führt zu Missverständnissen, baut Mauern auf und zerstört Vertrauen.

Sich Methoden der psychologischen Führung anzueignen halte ich daher für besonders wichtig. Wir haben es immer mit Menschen zu tun. Wer richtig führt, hat mehr Erfolg.

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Vorgestellt – Dominic Hippert

Mein Gesprächspartner heute war Dominic Hippert, Geschäftsführer der Schwarzwaldpflege mit Büros in Baden-Baden, Gaggenau und Offenburg. Nach einer Ausbildung zum Krankenpfleger und praktischer Berufserfahrung folgte die Weiterbildung zum Pflegefachwirt und schließlich das Management-Studium in Berlin mit dem Abschluss Master of Business Administration. Dominic Hippert ist seit fast 25 Jahren im Bereich der Pflege selbstständig tätig.

Dieses Gespräch ist Teil meiner Serie “Im Gespräch mit…” von und für Menschen die inspirieren, quer denken, vernetzen, verändern und eine positive Einstellung ins Leben tragen.

Sie möchten jemanden aus Ihrem Netzwerk vorschlagen, dessen Stimme gehört werden sollte? Dann schreiben Sie mich gerne an!

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Von lokaler Corporate Social Responsibility zum globalen Social Engagement

Gastbeitrag – Wie Gesellschaft und Unternehmen soziales Engagement innovativ leben und davon profitieren können

In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren wurden eine Reihe von internationalen sozialen Organisationen gegründet. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds erweiterten zunehmend ihre Aktionsfront und förderten bald die “internationale Entwicklung”. Es entstanden neben den großen Entwicklungsorganisationen – u.a. WHO und UNICEF – viele gemeinnützige Organisationen, die sich in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Belangen engagierten. Viele davon wurden in mehreren Ländern, meist punktuell, aktiv. Die Gründung dieser multilateralen Organisationen und NGOs (Non Governmental Organizations, „Nicht Regierungsorganisationen“) trug entscheidend zur Internationalisierung des Entwicklungskonzepts bei. Die Wirtschaft spielte in jenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine sehr kleine Rolle, und wenn dann ausschließlich als „Geldgeber“.

Das ändert sich nun im neuen Jahrtausend, in welchem gleich zu Anfang „Vernetzung“ zu den großen Erfolgen und Treibern zählt. Der Siegeszug des Internets und die Diskussionen um neue vernetze Strukturen innerhalb von Unternehmen sind nur einige Beispiele hierfür.

Und im Kontext des sozialen Engagements? Die Bedeutung der Privatwirtschaft wurde größer, sogenannte PPPs (Private Public Partnerships) entstanden. Allerdings, auch hier treten Unternehmen zunächst meist nur in der Rolle als Geldgeber auf. Mit den in 2016 veröffentlichten UN Zielen für nachhaltige Entwicklung /Agenda 2030 sind Industrien und Firmen nun mehr denn je gefragt, aktiv und nachhaltig Beiträge zu leisten, die weit über Spenden, CSR (Corporate Social Responsibility) Aktionstage oder CSR Abteilungen hinausgehen. In einigen Ländern wie zum Beispiel Indien, sind regelmäßige Investitionen der Firmen in den sozialen Sektor sogar gesetzlich geregelt. Hierbei geht es nicht nur um Gelder, sondern auch die Vermittlung von Expertise und Vernetzung.

Die strikte Trennung zwischen sozialem, gesellschaftlichem Engagement einerseits und Business mit dem Ziel des maximalen Profits andererseits ist im Auflösungsprozess begriffen und wird zunehmend hinterfragt. Zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bedarf es deutlich mehr als Spendengelder seitens Unternehmen und rein NGO getriebener Projekte „on the ground“. Die Missstände und Armut in vielen Ländern sind auch nach vielen Jahrzehnten des Engagements zahlreich und wirkliche systemübergreifende Änderungen bisher kaum sichtbar. Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Deutlich wird jedoch: Es bedarf tiefergehender, systemischer Veränderungen, wie wir Entwicklung und Entwicklungsarbeit, aber auch Business verstehen und verbinden.

Im Zeitalter der Vernetzungen wird Entwicklungsarbeit noch immer sehr traditionell angegangen. Schaut man sich an, welche Entwicklungsarbeit stattfindet und in den Medien beschrieben wird, fällt auf: Es geht meist um große Kampagnen, wie Initiativen gegen Malaria oder HIV, es geht häufig um klar definierte, abgegrenzte und themenspezifischen Projekte und Zielgruppen – mehr Bildung bei Frauen, Kinderrechte, Brunnenbau und Wasserversorgung, landwirtschaftliche Projekte usw. NGOs und Unternehmen haben sich spezialisiert und nutzen ihre Expertise, um an von ihnen bestimmten Orten aktiv zu werden. Es wird viel getan, allerdings beschränken Firmen und NGOs sich häufig auf ihre eigenen Themen und ihre lokalen Engagement-Gebiete. Vernetzung? Ja, warum denn und mit wem? Und was würde das bringen?

„Vernetzt zu denken und zu handeln, also über Sektoren, Funktionen, Organisationsformen hinweg, gemeinsam mit anderen gleichzeitig und parallel in einem Entwicklungsgebiet aktiv zu sein, all das scheint noch ein weiter Weg zu sein, denn der Mehrwert wird erst im Laufe der Jahre sichtbar werden.”
– Manuela Pastore –

Es geht nicht um Wettbewerb, sondern um ein Miteinander. Es ist komplex und viele Prozesse müssten neu definiert werden. Es ist definitiv einfacher, wenn es nur um die eigenen Belange und Projekte geht – und man engagiert sich ja schließlich. Das kann man gezielt zeigen, den eigenen Aktivitäten zuschreiben, es dauert nicht ewig und es versteht jeder. Man hilft dort, wo es offensichtlich am meisten brennt. Und für die eigene Organisation am besten passt. Das Entwicklungsengagement geschieht im Rahmen der eigenen innerorganisatorischen Rahmenbedingungen, der eigenen Satzung und Expertise, offensichtlich sinnvoll und vertretbar. Firmen und NGOs engagieren sich gerne dort, wo ihre Expertise liegt. Eine IT Firma im IT Bereich, ein Pharmaunternehmen im gesundheitlichen Bereich, ein Bildungsunternehmen im Bildungsbereich. Das macht ja auch Sinn. Und ist nach innen hin auch gut nachvollziehbar.

Über egozentrische Ansätze und das große „Aber“

Das ist allerdings der Blick aus Sicht unserer Organisationen und unseres Organisationsverständnisses. Wir engagieren uns, tun, was wir im Rahmen unserer sozialen Verantwortung als für unsere Organisation sinnvoll und moralisch wertvoll erachten. Individuell, erfolgreich, klare Zielsetzung und – wenn es gut läuft – auch eine perfekte Zielerreichung, so wie wir sie definiert haben. Business-like, prozessorientiert und -optimiert, messbar. Eigentlich perfekt, oder? Es geht um uns und unsere Ziele, um Projekte, um Zahlen – und klar, auch um die Menschen, für die wir etwas tun.

Allerdings geht es weniger um Vernetzung und systemverändernde Ansätze. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg… und auch viel schwieriger. Denn dazu wäre ein eher langfristiges Engagement gefragt, risikoreicher, schwieriger messbar und damit auch schlechter zu kommunizieren – nach innen und außen. Wer spendet, mag es am liebsten sehr konkret. Wer im größeren Rahmen investiert, ebenfalls – und zwar genau für das eine auserwählte Projekt, nicht aber unbedingt, um dieses eine Projekt mit anderen zu verknüpfen, auch wenn langfristig 1 und 1 = 3 oder mehr machen könnte.

Richtet man einmal den Blick weg von uns hin zu den Bedürftigen, sieht es anders aus. Was nutzt das beste Screening-Programm, wenn an anderer Stelle viele Krankheiten durch verunreinigtes Wasser entstehen oder das Einkommen fehlt, um sich gesund zu ernähren und zu bewegen? Wenn es keine Möglichkeiten gibt, sich Hände zu waschen und Seife zu bekommen? Wenn Internetflat und Handys verteilt sind, aber die Menschen nicht wissen, wie sie das Internet bedienen und welche Risiken es birgt? Wenn Business-Skills fehlen, um das eigene Einkommen weiterzuentwickeln? Wenn es keine Arbeit gibt, wenn Bildung fehlt?

Genau hier ist ein strategisches Umdenken nötig. Weg von uns und unseren Organisationszielen und hin zu den Menschen, die es betrifft.

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Doch nun ein wenig Konkretes: Mein Name ist Manuela Pastore, ich leite seit 7 Jahren eine globale sozialunternehmerische Initiative bei Boehringer Ingelheim, einem internationalen Pharmaunternehmen mit rund 50 000 Mitarbeitern. Im Rahmen dieser Initiative, Making More Health (MMH) fördern wir viele Sozialunternehmen weltweit, bauen Netzwerke und binden MitarbeiterINNEN aus unterschiedlichsten Abteilungen und Ländern aktiv in die Projekte ein. In unseren zwei Hauptregionen in Südindien und Westkenia haben wir viele Projekte auf einem Gebiet von jeweils 30, 40 qkm angestoßen und arbeiten mit unterschiedlichen Zielgruppen parallel und verknüpfen diese. Projekte entstehen nach und nach, basierend auf den Bedarfen der Menschen vor Ort. Auch solche, die nicht unmittelbar mit Gesundheit zu tun haben.

Dahinter steckt die Idee, statt einiger weniger fokussierter Projekte eine holistische Systemveränderung herbeizuführen. Zusammen MIT den Mensch vor Ort, nicht FÜR sie. Unter Einbindung von lokalen NGOs, Sozialunternehmen aus unserem Netzwerk, Mitarbeitern und ersten externen Partnern. Partnerschaftlich, in einer Weise, die alle profitieren lässt – auf unterschiedliche Weise. Wir sehen MMH nicht vorrangig als CSR, nicht als soziales Engagement, sondern vor allem auch als eine Möglichkeit, Dinge anders zu sehen und zu erfahren, andere Fragen gestellt zu bekommen und anders zu fragen, folglich auch Dinge anders zu tun. Und haben festgestellt: Das bietet einen enormen Raum für Innovation, auch für das eigene Business.

Wir machen Gesundheitstrainings und fragen dabei die Menschen, welche Themen sie interessieren. Das ist nicht unbedingt das, was wir aus unserer Expertise heraus anbieten würden. Übrigens, was meinen Sie, welche Gesundheitsthemen hier genannt wurden? (siehe *Auflösung am Ende des Blogbeitrags)

Eröffnung eines health awareness centers im tribal hospital, Kotthara, Indien
Hygienetraining ländliches Indien
Digital Training in Indien

Zudem finden auch digitale Trainings statt, um den Zugang zu Wissen zu erleichtern, wir schicken unsere ChemikerINNEN und PharmazeutikerINNEN vor Ort, damit einkommensschaffende Maßnahmen wie Seifenherstellung trainiert werden können.

Seifenherstellung in Indien

Wir sammeln Materialien aus unseren eigenen Trainings und von unseren Partnern und stellen sie auf einer Plattform kostenfrei allen Interessenten zur Verfügung, die an anderen Orten ähnliche Trainings durchführen wollen. Es macht ja keinen Sinn, das Rad immer wieder neu zu erfinden. Besser damit zu arbeiten und Dinge zu implementieren, oder? Poster, Flyer, einen Covid19 Awareness-Song, Spielkarten, die Gesundheitswissen vermitteln und vieles mehr finden sich hier.

Falls Sie Material haben, das für die Plattform interessant ist, kontaktieren Sie mich gerne.

Bei einwöchigen Führungskräfte-Trainings engagieren sich unsere MitarbeiterINNen gleich vor Ort und unterrichten unsere Selbsthilfegruppen und weitere Interessierte in Marketing und Vermarktung, Businessplanung, Tiergesundheit und Sicherheit im Alltag. Ein Großunternehmen hat Experten aus fast allen Bereichen. Warum sollten wir also nur Gesundheit unterrichten? Was am meisten verwundert? Wir, die Menschen aus entwickelten Ländern, sehen Dinge plötzlich anders, erkennen neue Zusammenhänge und verstehen, dass Armsein nicht automatisch bedeutet weniger glücklich zu sein – im Gegenteil. Zurück im Berufsalltag stellen wir neue Fragen und finden andere Antworten. Mehr dazu unter: https://www.makingmorehealth.org/shared-value/leadership-programs

MMH Leadership Insights Week

Und was lernen wir vor Ort aus den Projekten und in unserem Netzwerk mit Sozialunternehmern? 

Gesundheitswissen alleine reicht nicht, um mehr Gesundheit zu schaffen. Die Menschen vor Ort brauchen holistische Lösungen, auf denen sie ihren Alltag aufbauen können. Es bedarf neben mehr Gesundheit auch Infrastrukturen, Möglichkeiten Geld zu verdienen, Bildung. All das muss so aufgebaut sein, dass die Menschen ihre Werte und Kulturen darin wiedererkennen, möglichst viel selbst daran beteiligt sind und Lösungen auch krisenresistent sind. Krisensituationen wie Covid-19 oder Überflutungen können schnell Erreichtes zunichte machen – oder auch zeigen, dass unsere Trainings erfolgreich sind.

So wurde in den vergangenen COVID-19 Monaten unsere Community mit Menschen mit Albinismus ( wir arbeiten hier zur Zeit mit 130 Familien ) – in Webuye, Westkenia – zu „Helden“. Menschen mit Albinismus werden in Ostafrika häufig verfolgt, angegriffen und sogar getötet; es gibt viel Aberglaube und viel Elend. Anders in Webuye: Unsere Community hat die Kleinstadt mit Flüssigseife und Hygienewissen versorgt, ob es die Boda-Bodas ( Motorrad nutzende Taxifahrer) waren, ob Schüler oder ältere Nachbarn. Die lokalen Medien berichteten mehrfach darüber. Unsere Community setzt sich nicht nur für andere ein, sondern verkauft auch Seife, wo möglich. Inzwischen züchten sie auch Hühner, bauen Schultische und bilden sich ständig weiter. Sie engagieren sich auch für andere Menschen mit Albinismus und teilen ihr Wissen mit Armen. Die Seifenrezeptur wurde kurzerhand gefilmt und digital weitergegeben. So kann Seife und Basiswissen zum Thema Händewaschen nun auch von Slumbewohnern in Nairobi hergestellt und weitergegeben werden. Ebenso am Viktoriasee. Und innerhalb landesübergreifender Albinismus-Communities.

Was bei diesem vernetzten Ansatz weiterhin auffällt: Die Betroffenen entwickeln eigene Ideen, sind selbstbewusst und – sie sehen sich selbst anders und werden anders gesehen. Basierend auf dem Netzwerkansatz.
Ein schönes Beispiel, was möglich ist. Doch lange nicht genug. Mehr dazu: https://www.makingmorehealth.org/content/covid-19-our-project-partners-africa-help-others-protection-virus

Albinism Webuye

Ein einzelnes Unternehmen, eine einzelne Organisation wird nicht in der Lage sein alle notwendigen Änderungen herbeizuführen

Die Menschen vor Ort stehen vor komplexen Herausforderungen. Tag für Tag, von morgens bis abends. Fehlende Infrastrukturen, fehlendes Wissen. Armut, wenig Gesundheit … Ähnlich eines Marktplatzes bedarf es nicht nur eines Apfelverkaufsstandes, um einen Markt nachhaltig aufzubauen. So geht es auch nicht darum, als einzelner Investor möglichst viele auf bestimmte Themen oder Zielgruppen fokussierte Projekte durchzuführen und zu skalieren, sondern auch und vor allem darum, gemeinsam mit den Menschen vor Ort und vielen weiteren Investoren/Partnern zeitlich und örtlich parallel Systemveränderungen in unterschiedlichsten Lebensbereichen herbeizuführen und diese zu vernetzen.

“Daher suchen wir mit MMH nach Partnern, Sozialunternehmen, NGOs, anderen Firmen aus unterschiedlichsten Sektoren, die sich gemeinsam mit uns, aber vor allem auch mit den lokalen Vertretern und Bevölkerungsgruppen engagieren, Lösungen entwickeln und zusammenbringen.” – Manuela Pastore

Das wichtigste dabei ist Vertrauen zu schaffen, in alle Richtungen. Zu verstehen, was wirklich benötigt wird (und nicht unsere eigenen Ziele in den Vordergrund zu stellen) und dabei die Menschen vor Ort so zu stärken, dass sie es eigenverantwortlich weiterführen und aufbauen können. Wir müssen weg von individuellen Zielen hin zu Netzwerkstrukturen und systemischen  Veränderungen. Und hierbei einen Mehrwert für alle schaffen, auch für die Organisationen selbst. Weg von individuellen, egozentrisch getrieben Projekt-Kennwerten und -Messungen hin zu einem tatsächlichen Mehrwert, der Innovationen für eine bessere Zukunft bringen kann. Aus sozialem Engagement heraus. Für die Menschen in Not, für unsere Umwelt und auch für unser Business der Zukunft. Ich bin sicher wir in unserer „entwickelten“ Welt werden viel dabei lernen und entdecken, neue Fragen stellen und andere Antworten finden.

„Innovationen beginnen dort, wo neue, ungewohnte Partnerschaften entstehen.” – Manuela Pastore

Wo wir neue Partnerschaften entdecken und fördern, wie solche mit Sozialunternehmen, die ähnlich wie Startups unternehmerische – teils „wilde“ – Ideen verfolgen, hierbei aber gesellschaftliche Herausforderungen in den Mittelpunkt stellen. Ashoka, eine sehr große und globale NGO, und einer unserer langjährigen MMH Partner, sucht nach solchen engagierten Startups, bringt sie durch Selektionsprozesse (hierbei werden nur ca. 5 von 100 Sozialunternehmer Ashoka fellows auf Lebenszeit) und bildet ein Netzwerk mit „Ashoka fellows“. In unserer MMH Initiative unterstützen wir diese und versuchen sie an unsere Projekte anzudocken oder auch unsere Erfahrungen an sie weiterzugeben. Das wiederum hilft den Sozialunternehmen, ihre Startups mit mehr Expertise zu führen und wirkt sich auf deren Arbeit in der Gesellschaft aus. Und es hilft unseren Führungskräften voneinander zu lernen und Mehrwert für alle zu schaffen. Es ist ein längerer, vielleicht auch ungewohnter und vor allem neuer Weg, diese notwendigen Netzwerke und damit vernetzte Entwicklungsarbeit weiterzuentwickeln. In den vergangenen zehn Jahren haben wir hierbei viele Dinge gemeinsam erlebt, getestet, und weiter entwickelt, und MMH ist zwischenzeitlich zu einer Bewegung geworden, die sich über Funktionen intern und sehr unterschiedliche Zusammenarbeit mit externen Partnern hinweg aufbaut. Es ist dort angekommen, wo es vor vielen Jahren als Vision begonnen hat – eine Brücke zu bauen zwischen sozialer und Businesswelt. Mit vielen Facetten und netzwerkartiger „ansteckender“ Ausbreitung.

Es gibt viele begeisterte Menschen, die Sinnhaftigkeit suchen und innerhalb MMH nun auch Möglichkeiten finden, ihren beruflichen Alltag und gesellschaftliches Engagement zu verbinden, und dabei Businessideen entwickeln, die der künstlichen Trennung von sozialer Welt und Businesswelt entgegenwirkt. Schließlich gibt es nur diese eine Welt. Wir werden zukünftig besonders fokussiert auch nach weiteren externen Partnern suchen, um die nächsten Schritte gemeinsam voranzutreiben. Nach der internen funktionsübergreifenden Ausbreitung von MMH und aktivem, fortlaufendem Mitarbeiterengagement aus unterschiedlichsten Richtungen, die wieder zu vielen weiteren Ideen und Beiträgen vor Ort geführt haben, werden externe Partner hier noch viel mehr Impact schaffen können. Und auch davon profitieren.

Falls das für Sie interessant ist und Sie auch einmal dabei sein wollen – wir haben unsere Führungskräftewochen nach extern geöffnet:
Informationen zu unseren Führungskräftewochen (PDF)

Wir werden es schaffen, wenn… ja, wenn wir – jeder einzelne von uns – wo und in welchem Bereich auch immer wir arbeiten, traditionelles isoliertes „CSR versus Business“-Denken überwinden und eine Chance darin erkennen, gemeinsam mit anderen eine bessere Welt zu schaffen. Ob bei Businessentscheidungen im Alltag generell oder bei konkreten gesellschaftlich orientierten Projekten vor Ort. Wenn wir nicht nur in technische Entwicklungen investieren, sondern auch in soziale Innovationen und dabei auch Risiken auf uns nehmen. Denn nicht alle Ansätze werden zum Erfolg führen. Aber das tun sie auch bei technischen Innovationen nicht. Wenn wir Partner in anderen Unternehmen finden, die auch über die üblichen Nachhaltigkeitsprojekte und CSR-Abteilungen hinaus mehr erreichen wollen. Das ist nicht einfach.

Nur: Innovationen und Systemveränderungen waren nie einfach, wenn sie Großes bewirkt haben. Aber eine bessere Welt sollte es uns wert sein und wir sollten es versuchen, oder?

Ihre

Manuela Pastore,
Global Lead Making More Health (MMH), Boehringer Ingelheim

Manuela Pastore – Global Lead MMH Boehringer Ingelheim

Manuela wurde früh geprägt durch Erfahrungen in länglichen Regionen Süditaliens, wo sie die Herausforderungen von Jobverlust, Armut und Umwelteingriffen miterlebte. Heute packt sie in Indien und Kenya persönlich an, unter anderem durch Trainingsprogramme und den Aufbau von Kleinstgewerben. Sie führt regelmäßig Leadership-Trainings im ländlichen Indien und in Westkenya durch, an denen „Influencer“ mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aus verschiedener Unternehmen, teilnehmen. Dadurch hat sie eine regelrechte Bewegung sozialer Intrapreneure geschaffen, die durch systemveränderndes Denken und Handeln – auch im täglichen Kerngeschäft – auffallen. Manuela ist bekannt als Sprecherin von MMH und als Netzwerkerin, die sich unermüdlich für die Erweiterung der Zusammenarbeit von NGOs und sozialer Entrepreneure einsetzt.

Kontakt:

mailto:pastore.manuela@googlemail.com

Vernetzen:

https://de.linkedin.com/in/manuelapastore

Weiter Infos:

Making Health: Wie Manuela die Welt ein bisschen gesünder macht

www.makingmorehealth.com

www.gokenyagofuture.com (privater Blog)

www.goIndiagofuture.com (privater Blog)

*Auflösung der Frage im Text, für welche Gesundheitsthemen sich Menschen vor Ort interessieren: Wir haben ca. 20 Dörfer befragt, dort vor allem Selbsthilfegruppen/Frauen. Dabei wurde als wichtigstes Thema Tiergesundheit genannt. Hintergrund ist, dass Tiere häufig die erste und einzige Einkommensquelle sind. Weitere Themen waren v.a. Hygiene, Schwangerschaft, Ernährung, mentale Gesundheit, Sicherheit, Erste Hilfe, Gesundheitschecks, die selbst durchgeführt werden können ( wie Bluthochdruck messen), und – in dieser Reihenfolge – auch mehr Wissen zu Infektionskrankheiten und chronischen Erkrankungen.