Im Gespräch mit Dr. Stefan Gumbrich über Leben im Einklang mit der Natur

Mein Gesprächsgast wählt sich gut gelaunt in Zoom ein, denn gerade wurden auf seinen Wiesen zwei Ziegen geboren. Stefan Gumbrich hat in der Südpfalz mit seiner Partnerin Betti und einem befreundeten Paar einen Selbstversorgerhof aufgebaut und hat sich damit einem Lebenstraum erfüllt. Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg.

Er wurde an der Fachhochschule in Bingen zum Ingenieurinformatiker ausgebildet, schloss in Paderborn ein Informatikstudium an und stieg bei IBM ein, wo er in den ersten Jahren berufsbegleitend seine Promotion absolvierte. Er war für den IT-Konzern 2o Jahre lang in der Unternehmensberatung als Führungskraft tätig, bevor er im Spätsommer 2013 ausschied. Wie es zu diesem Einschnitt kam, welchen Weg er danach nahm, was er dabei über sich und das Leben gelernt hat und warum er jetzt auf der Suche nach Menschen ist, die sich in sein Selbstversorgerprojekt einbringen  – darüber wollen wir reden. 

Stefan nimm uns doch mal mit in die Erfahrung die du gerade gemacht hast. Du sagst eure Ziegen haben Babys geboren?

Ja, insgesamt kamen in den letzten Tagen 6 Schaflämmer und 3 Zicklein zur Welt. Die beiden Ziegenmütter haben zum ersten Mal geboren, das ist immer ein bisschen aufregend: achtgeben, ob es Komplikationen bei der Geburt gibt; aufpassen, dass die Nachgeburt vollständig rauskommt; helfen wo nötig, aber auch nicht zu viel stören, da es sonst sein kann,  dass sie die Babys nicht annehmen. Ich schaue auch, ob sie Milch haben und die Kleinen trinken. Es hat diesmal  alles sehr gut funktioniert.

Ich habe die Ziegenmutter mit ihren zwei Babys, die vor zwei Stunden geboren wurden, gerade noch separiert. Sie sind jetzt in einen Raum im Stall, in dem sie sich ungestört aneinander gewöhnen können und sich nicht verlieren.

Dabei habe ich festgestellt, dass die Mutter einen zu dicken Euter hat, an dem die Babys bisher noch nicht richtig saugen können. Ich hoffe jetzt dass sie es schaffen. Ich gehe nachher nochmal kontrollieren. Wenn es nicht klappt ist die Alternative Sie mit der Flasche zu füttern. Dann muss ich alle zwei Stunden raus – auch nachts. Ich hoffe also, dass es nicht soweit kommt!

Die kleinen Ziegen sehen schon sehr erwachsen aus. Woher wusstest du denn, dass es heute soweit ist?

Sofort nach der Geburt versuchen die kleinen Ziegen aufzustehen und nach zwei Stunden können sie bereits gut laufen.
Ich beobachte die Muttertiere genau und so wusste ich, dass die Geburt heute passiert. Das gibt mir ein ganz warmes Gefühl. Das ist das Schöne am Selbstversorgerprojekt: Du bekommst den gesamten Kreislauf mit von der Schwangerschaft, über die Geburt, das Leben bis hin zum Tod.

Wenn das Neugeborene ein Böckchen ist, weißt du, dass du es leider schon in einem Jahr loslassen musst. Ich versuche es dann an einen anderen Hof zur Zucht abzugeben. Wenn das aber nicht klappt, muss ich es schlachten, denn für eine separate Bockherde ist unsere Herde zu klein und wenn ich die Böcke bei den Muttertieren lasse decken die Böcke ihre eigene Mutter und ihre Schwestern, was für die Zucht schlecht ist.

Wie geht es dir damit, wenn du eine Ziege die du zur Welt gebracht hast schlachten musst?

Das fällt mir sehr schwer, weil ich diese Tiere jeden Tag sehe, pflege, streichele, liebgewonnen habe. Ich mache das auch nur zu einem Zeitpunkt den ich als passend empfinde; an einem Tag an dem ich ausgeglichen und ruhig bin. Die Energie muss passen. Für mich ist das eine Handlung, bei der ich sehr behutsam mit dem Tier umgehe. Trotzdem töte ich es, daran werde ich mich nie gewöhnen. Aber die Alternative würde es nur mir leichter machen. Wenn ich das Tier in einen Anhänger verlade und zu jemandem hinbringe der es tötet, ist das für das Tier viel unangenehmer, weil es beim Transport Stress empfindet, an einen Ort gebracht wird den es nicht kennt. Daher töte ich die Ziege selbst, aus Respekt vor diesem Tier, auch wenn ich mich gerne davor drücken würde.

Bis zu diesem Punkt in deinem Leben war es ein weiter Weg. Nimm uns doch mal ein Stück mit in deine Vergangenheit.

Ich hatte eine schöne Kindheit, bin in behüteten Verhältnissen in einem kleinen Ort in Rheinhessen aufgewachsen. Ich bin sehr dankbar dafür, wie ich aufgewachsen bin, denn ich hatte alle Möglichkeiten. Das was ich heute tue ist ein Ergebnis des Lebenswegs den ich gehen konnte. Ich bin hervorragend ausgebildet, habe viel Geld verdienst, war erfolgreich in Unternehmensberatung und Management und haben dann festgestellt, dass das nicht alles ist. Die Wahl zu haben so weiterzumachen und Wohlstand anzuhäufen, oder den Lebensweg zu wählen, den ich jetzt gehe, empfinde ich als ein unglaubliches Privileg.

Was war denn der Auslöser für den Wandel?

Meine Triebfeder im Leben ist, dass das was ich tue spannend sein muss und mich fordert.

Ich hatte in der Unternehmensberatung bei IBM irgendwann das Gefühl, dass mich das nicht mehr weiterbringt. Ich hatte so viel Erfahrung in verschiedenen Projekten gesammelt, unterschiedlichste Methoden kennengelernt, und mich dabei auch immer wieder auf die unterschiedlichsten Menschen eingelassen. Neue Projekte konnten mich einfach nicht mehr herausfordern. Es hat sich auch kein WOW!-Gefühl mehr eingestellt, wenn ein Projekt erfolgreich, oder ein neuer Vertrag abgeschlossen war. Damit war für mich der Reiz weg und es musste etwas Neues kommen.

Der logische Schritt wäre gewesen das Unternehmen zu wechseln, eine Stufe höher zu steigen und mehr Geld zu verdienen – diverse Angebote dazu gab es. Mir war an dem Punkt klar, dass dieser Schritt nicht der richtige Weg wäre. Ich wollte ein anderes Gleichgewicht in mein Leben bringen. Da ich eher zu den Extremen als zu den kleinen Schritten neige, bin ich nach Afrika ausgewandert.

Dazu sollte ich an dieser Stelle vielleicht erklären, dass wir 25 Jahre ein Paar waren. In diesen Jahren haben wir mehrere Transafrikareisen zusammen unternommen und sind dabei unter anderem bei einem Projekt in Togo, Westafrika vorbeigekommen, das dich sehr fasziniert hat. Warum?

Ich bin als Naturwissenschaftler bzw. Informatiker in einer sehr faktenorientierten und wissensorientierten Welt groß geworden. Auf den Reisen durch Afrika ist mir bewusst geworden, dass es andere Aspekte gibt, die mir bis dahin fremd waren. Mich haben vor allem die vielfältigen Begegnungen mit Menschen fasziniert, die ein Urvertrauen in geistige Kräfte haben.

Insbesondere bei der Gruppe die wir in Togo kennenlernen durften, habe ich festgestellt, dass da etwas ist, was für mich wichtig ist und mich weiterbringen kann. Das war für mich der Moment als ich mich entschied, bewusst nach dem anderen Teil der Schöpfung zu schauen, den ich bisher wenig wahrgenommen hatte.

Es war aber nicht nur die spirituelle Entwicklung die mich angezogen hat, sondern auch die private Entwicklungshilfe. Die Gruppe hat beispielsweise ein Waisenhaus betrieben und sich um die Gesundheit der Lokalbevölkerung gekümmert. Das gepaart mit dem Aspekt der Selbstversorgung hat mich angesprochen. Im Endeffekt lief alles auf den nächsten Schritt der Persönlichkeitsentwicklung hinaus. Es gehört zu meiner Wesensart, dass ich nicht nach hinten sondern meist nach vorne schaue. Daher habe ich mich in Togo darauf konzentriert eine neue Welt zu entdecken und damit für mich persönlich einen großen Schritt vorwärts zu tun.

Beschreib doch mal, wie wir uns dieses Projekt vorstellen können

Innerhalb des Projektes haben wir sehr einfach gelebt. Ich hatte eine kleine Hütte mit einem Betonpodest als Bett für mich. Wir haben fast alles in der Gemeinschaft von über 70 Leuten gemacht. Ich habe den Umgang mit den 50 Waisenkindern geliebt. Zu sehen, dass ich ihnen etwas geben kann, an ihrer persönlichen Weiterentwicklung teilhaben kann, das war sehr schön. Das ging über den Schulunterricht hinaus, denn wir haben z.B. auch handwerklich gemeinsam gearbeitet. Ich war auch fasziniert davon, von den Kindern zu lernen. Einiges können sie besser als wir Erwachsene, vor allem in Bezug auf den Umgang mit Tieren.

Was mich auch erfüllt hat war die Arbeit mit der Buschambulanz. Wir sind mit Ochsenkarren in die Dörfer gefahren und haben eine mobile Krankenstation aufgebaut. Für mich war immer wieder faszinierend zu sehen, dass wir mit einfachen Medikamenten (konventionell und pflanzlich) Leben retten konnten. Würmer und Amöbenruhr waren sehr häufig, auch bei kleinen Kindern. Als wir kamen, waren sie apathisch, eine Woche später waren sie schon wieder aktiv. Das waren sehr einschneidende Erlebnisse für mich. Die Wirkung meines Tuns war dort eine ganz andere. Hier konnte ich helfen Leben zu retten, in meinem alten Job habe ich minimale Änderungen in Unternehmen hervorgerufen, die dazu führten, dass Umsatz und Profit gesteigert wurden.

„Die Energie die ich hier eingesetzt habe, hat zu einem größeren Nutzen geführt, ich hatte einen größeren Hebel. In Deutschland hat das gleiche Gefühl bestimmt jede Krankenschwester die auf der Intensivstation Corona-Patienten betreut. Man muss also nicht zwingen nach Afrika fahren, um die gleiche Erfahrung zu machen.“

Ich habe mich in der Gruppe auf der geistigen und auf der materiellen Ebene mit anderen Dingen beschäftigt als zu Hause und gesehen, dass das für mich funktioniert. Ich habe darüber auch eine gewisse Leichtigkeit entwickelt. Ich hatte kein Einkommen und keine Krankenversicherung. Mir hat das aber ein Gefühl von Freiheit gegeben, weil ich festgestellt habe, dass ich nichts tun muss, wovon ich nicht überzeugt bin, nur um wirtschaftliche Randbedingungen zu erfüllen. Mir hat das das Bewusstsein gebracht, dass ich immer zurechtkommen werde.

Aber du hast die Gruppe nach ein paar Jahren verlassen. Wie kam es dazu?

Ich bin mit der Gruppe nach zwei Jahren in Togo weiter nach Bulgarien umgezogen, wo wir als Selbstversorger gelebt haben. Wir waren 28 Erwachsene und da gibt es natürlich Prozesse und Gruppendynamiken und ich hatte nach vier Jahren das Gefühl, dass ich wieder etwas Eigenes machen muss, dass es mir zu eng wird. Aber ich habe gespürt: Diese Art zu leben, als Selbstversorger, ist für mich genau das Richtige, naturnahes Leben und eingeschränkter Konsum.

Die Rückkehr nach Deutschland war sicher nicht einfach. Wie hast du das erlebt?

Die Erfahrung in Togo und Bulgarien hat mir Freiheit im persönlichen Handeln gebracht, denn als ich nach Deutschland zurückkam, war zwar klar, dass ich wieder Geld verdienen muss, aber ich wollte zunächst nicht ins Büro, denn ich hatte ja vier Jahre am Stück nur draußen verbracht. Also habe ich erst im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. In diesem Beruf konnte ich draußen sein und so viel verdienen wie ich brauchte, um leben zu können. Ich habe mich natürlich gefragt, was ich mache, wenn ich als Gartenbauer auf einen früheren Kunden treffe, aber dann habe ich mir gesagt, dass das bestimmt ein interessantes Gespräch wird und damit war es dann auch gut. Natürlich hat sich auch das Ego gemeldet und gefragt, ob ich wirklich als promovierter Naturwissenschaftler bei Leuten vor der Tür fegen kann. Die Antwort ist: „Ja, kann ich!“ Ich habe mit den Kunden immer wieder Gespräche geführt und Impulse gesetzt, welche kleinen Veränderungen möglich sind, um den Garten ökologisch sinnvoller zu gestalten. Insofern konnte ich auch hier etwas bewegen. Im Prinzip habe ich dabei nichts anderes gemacht als in der Beratung. Ich habe Einfluss genommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das in jedem Beruf möglich ist.

„Veränderung ist eine Frage der inneren Haltung. Ich muss mich frei machen von Standesdenken, von Zwängen und von dem was andere über mich denken mögen.“

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Aber es ist auch richtig, dass du nicht mit der Vorstellung nach Deutschland zurückgekehrt bist, ewig als Garten- und Landschaftsbauer zu arbeiten. Du wollest Selbstversorger werden. Wie hast du dieses Ziel weiterverfolgt?

Das stimmt, mein Ziel war in einer kleinen Gemeinschaft einen Selbstversorgerhof aufzubauen. Boris und Pialo, die ebenfalls Teil des Teams in Togo waren, haben damals entschieden mit mir nach Deutschland zu gehen und das Experiment Selbstversorgerhof mit aufzubauen.

So haben wir im April 2018 eine ehemalige Mühle in der Südpfalz nahe der französischen Grenze gekauft. Anfangs habe ich immer noch parallel im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. Irgendwann war ich soweit, dass ich die körperliche Arbeit gerne wieder mit einem Job kombinieren wollte, in dem ich meine anderen Fähigkeiten und Soft Skills einsetzen kann.

Ich wünschte mir ein wissenschaftsnahes Betätigungsfeld, bei dem es nicht darum geht, den Gewinn und Umsatz zu maximieren, sondern ein Themenfeld das einen Sinn für die Gesellschaft hat. So bin ich schließlich – nach über 6 Jahren Pause – wieder zur IT zurückgekehrt. In dieser Zeit hat sich natürlich technisch sehr viel getan, aber ich war schon bei IBM nicht der technische Experte, sondern eher der Stratege und habe gelernt mich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Ich muss bei der Arbeit die ich jetzt tue technisch nicht im Detail sein, sondern in erster Linie die Zusammenhänge und Konzepte verstehen. Meine Aufgabe ist das Innovationsmanagement. Das geht von der Akquise von Partnern und Forschungsgeldern über Projektdefinition bis hin zur strategischen Planung der Unternehmensziele. Zunächst einmal kein so großer Unterschied zum Bereich Beratung und Management, wie zuvor.

Aber heute arbeite ich für HeiGIT, ein gemeinnütziges Unternehmen, ein Start-Up, das von der Klaus-Tschira-Stiftung finanziert wird und an die Universität Heidelberg angegliedert ist. Hier werden Geoinformatiklösungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen generiert, die für humanitäre Organisationen von Nutzen sind, aber auch für Organisationen, die dem Klimawandel entgegenwirken. Um es einmal praktisch zu beschreiben: Wenn irgendwo eine humanitäre Katastrophe passiert, beispielsweise ein Erdbeben, dann unterstützen unsere Lösungen Hilfsorganisationen dabei, den Weg zu den Menschen zu finden, die Hilfe brauchen. Es geht aber auch um die Vorausplanung, also z.B. um die Frage wie viele Menschen in einem afrikanischen Land innerhalb von 60 Minuten eine Krankenstation erreichen können und wo bei einer Überflutung mit hoher Wahrscheinlichkeit die größten Lücken in der kritischen Infrastruktur entstehen. Alles Fragen, die mit Geoinformatik zu beantworten sind.

Mir macht diese Arbeit sehr viel Spaß, weil die Teams unglaublich motiviert sind. Jeder der sich in diesen Projekten engagiert hat den Willen etwas Sinnvolles zu tun. Mein Anspruch war immer, in der intensiven Zusammenarbeit mit Menschen Lösungen für Probleme zu finden. Das ist vielleicht das Verbindende zwischen meiner Karriere vor und nach dem Ausstieg.

Soft-Skills veralten nicht, habe ich festgestellt. Mir schwirrte eher der Kopf, weil ich es nicht mehr gewohnt war, viele Informationen in sehr kurzer Zeit zu verarbeiten. Aber daran habe ich mich schnell wieder gewöhnt. Ich habe heute eine 50-Prozent-Stelle. Das heißt ich arbeite von Montags bis Mittwochs im Unternehmen HeiGIT, so habe ich von Donnerstag bis Sonntag Zeit, mich auf unseren Selbstversorgerhof zu konzentrieren. Das fühlt sich für mich nach einer guten Teilung an.

Wie sieht euer Mühlenprojekt denn heute aus?

Außer den eingangs erwähnten Ziegen und Schafen haben wir Hühner, Laufenten, Gänse, Bienen und Anton, den Hofhund. Außer Anton sind alle Tiere von Nutzen für die Selbstversorgung. Die Ziegen produzieren Milch, die wir trinken und zur Herstellung von Frisch- und Hartkäse einsetzen. Auch die Schafe sind Milchtiere. Wir nutzen außerdem ihre Wolle zum düngen und mulchen im Garten. Wir haben die Vision sie auch einmal zu spinnen, aber dafür fehlt im Moment die Zeit. Die Hühner legen Eier, die Bienen schenken uns Honig. Die Laufente hält die Nacktschnecken vom Garten fern.

Der Hof ist nach Permakulturgesichtspunkten aufgebaut. Die Beete im Garten werden in jedem Jahr versetzt, damit sich ein Teil ausruhen kann, auf dem Klee wächst, der Stickstoff produziert. An der Stelle haben wir im nächsten Jahr wieder einen ausgeruhten Boden. Wir bauen viel Gemüse an, das eingekocht oder getrocknet wird. So verfügen wir auch im Winter über alles was wir brauchen. Wir bauen auf unserem Feld Kartoffeln, Mais, Bohnen und Getreide an.

Der ganze Hof hat vier Hektar, wovon nur ein kleiner Teil intensiv bewirtschaftet wird. Viel Land ist Weidefläche. Außerdem führt ein Bach und der Mühlgraben durch unser Grundstück. Es gibt naturbelassene Teile und einen Sumpf.

Auf unserer Streuobstwiese haben wir 20 Hochstammbäume zu 15 Obstbäumen aus altem Bestand gepflanzt. Das sind Apfelbäume, Birnen, Quitten, Pflaumen und Süßkirschen. Aus den Äpfeln machen wir Saft und dieses Jahr habe ich zum ersten Mal aus unserem Apfelwein Schnaps gebrannt, Pfälzer Calvados sozusagen.

Wie tastet ihr euch denn an die Selbstversorgung heran, oder habt ihr aus Bulgarien schon genug Erfahrung mitgebracht?

Wir haben in Bulgarien und Togo schon viel Erfahrung gesammelt, aber es gibt noch viel zu lernen und auszuprobieren. Wir experimentieren sehr viel und versuchen die Selbstversorgung immer ein Stück weiterzubringen. Es braucht Zeit und viel Geduld. Wir sprechen gerne mit alten Leuten, schauen Youtube-Videos etc. Was wir tun ist ja grundsätzlich nicht neu, unsere Großeltern haben das noch gemacht, aber vieles Wissen wir einfach nicht mehr.

Um ein Beispiel zu nennen: Wir hatten 6000 Quadratmeter, die mannshoch mit Adlerfarn bewachsen waren und somit unbrauchbar. Die Bauern aus der Umgebung waren sich einig, ebenso wie die Foren im Internet, dass man das nur wegbekommt, wenn man Gift ausbringt. Das war für uns natürlich keine Option. Einer der Alten hat uns dann den Tipp gegeben, das Feld regelmäßig zu mähen. Also sind wir zu viert mit der Handsense sieben Mal im Jahr über den Adlerfarn und haben ihn gesenst. Das haben wir zwei Jahre hintereinander gemacht. Damit haben wir ihn schon etwas geschwächt. Im Anschluss haben wir Mist auf dem Feld ausgebracht, um die Bodenkultur zu verändern und haben alles, vom Biobauern um die Ecke, einmal umpflügen lassen. Die Wurzeln haben wir herausgesammelt. Und siehe da: Jetzt ist das Ganze eine schöne Wiese die als Weide taugt. Das hat lange gedauert und viel Arbeit bedeutet, aber es hat geklappt. Alle unsere Flächen sind in den letzten 30 Jahren nicht bewirtschaftet worden und daher frei von Chemie. Wenn es nach uns geht, soll das auch so bleiben. Da um uns herum auch alle biologisch und kleinbäuerlich arbeiten, leben wir in unserem Mühlental eigentlich in einem Paradies.

Wir haben natürlich einen großen Luxus. Wir müssen nicht von dem leben, was wir anbauen. Wenn eine Ernte misslingt, wie z.B. im letzten verregneten Sommer die Tomaten, dann können wir Nahrungsmittel kaufen. Wir verhungern deshalb nicht. Es ist ein Experiment, das in erster Linie Spaß macht. Wir sind nicht so dogmatisch, dass wir sagen „wir essen nur das, was wir selbst angebaut haben“. Wenn ich im Winter Lust auf eine Bio-Orange habe, dann kaufe ich sie. Doch größtenteils leben wir von Obst, Gemüse oder Kartoffeln, kurzum von anderem, was wir selbst ernten.

Ihr seid jetzt auf der Suche nach neuen Mitgliedern für eure Selbstversorgergemeinschaft. Wen habt ihr euch denn vorgestellt?

Ja das stimmt. Boris und Pialo haben uns inzwischen verlassen, weil sie den Wunsch hatten, mit dem Segelboot eine Weltreise zu machen.

Wir haben von Anfang an das Ziel gehabt in einer kleinen Gruppe den Selbstversorgerhof zu betreiben, damit jeder seine Freiräume behält, man auch mal in Urlaub gehen oder über Nacht Freunde besuchen kann. Mit Tieren muss zumindest morgens und abends jemand da sein. Zu zweit würde das also nicht mehr gehen.

Daher ist unsere Idee, eine neue Gemeinschaft zu gründen, die gemeinsam das Projekt weiterentwickelt. Wir haben das Glück, dass wir noch ein zweites Haus auf dem Mühlengelände haben, das momentan leer steht, weil die Mieter ausgezogen sind. Wir haben also Wohnraum, den man entsprechend umgestalten kann, um weitere Mitglieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Platz wäre für 4 bis 5 Leute. Uns schwebt eine junge Familie vor und jemand mit etwas handwerklicher Erfahrung.

Wir suchen Menschen, die sich vorstellen können intensiv in die Selbstversorgung einzusteigen, die auch die Zeit, körperliche Fitness und Energie mitbringen dies umzusetzen, denn wir tun viel in Handarbeit und wenig mit Maschinen. Es gibt immer etwas zu tun, mit den Tieren, im Garten im Feld oder handwerklich. Das ist sehr vielseitig und macht Spaß. Wir sehen das nicht als Arbeit, sondern als unsere Art zu leben.

Ideen zur Fortentwicklung gibt es viele: Wir könnten zum Beispiel ein Wasserrad einbauen, um unseren eigenen Strom zu generieren. Wir könnten längerfristig einen Hofladen einrichten, in dem wir unsere Überschüsse verkaufen. Außerdem gibt es noch sehr viel brach liegende Wiesen in unserer direkten Umgebung. Da haben wir schon überlegt, Wasserbüffel anzuschaffen, dann könnten wir neben Ziegenkäse sogar Mozzarella herstellen!

Wir bauen auch gerade ein kleines Gästehaus am Bach, in das jemand einziehen kann, der für begrenzte Zeit in unserem Projekt arbeiten und sich zum Thema Selbstversorgung fit machen möchte.

Aber wir sind flexibel und gespannt welche Ideen die neuen Mitglieder mitbringenWir sind offen für neue Impulse. 

Wie sieht denn dein Tagesablauf im Moment aus?

Am Morgen versorge ich zuallererst die Tiere. Dann setze ich mich am Bach unter unsere drei großen, schönen Eichen und meditiere. Danach wird gefrühstückt und dann geht´s ins Home-Office an den Computer.

Auf diese Weise komme ich mit innerer Ruhe in den Tag und kann mich fragen, ob es für mich persönlich Dinge gibt, die anstehen. An meiner persönlichen Weiterentwicklung arbeite ich natürlich immer noch, das hört niemals auf. Über die Meditation kann ich mir Aspekte bewusst machen und schauen, wie ich diese im Alltag umsetzen kann. Nur so wird Veränderung tatsächlich sichtbar.

Du hast in deinem Selbstversorgerhof dein Herzensprojekt verwirklicht. Was möchtest du Menschen mitgeben, die sich in einer Lebenssituation gefangen fühlen, eigentlich aber etwas anderes wollen?

Mein Vorteil war, dass ich keine Zwänge hatte, ich hatte keine Kinder und keine wirtschaftlichen Verpflichtungen, das hat mir den Ausstieg natürlich leichter gemacht. Was jeder für sich selbst hinterfragen kann ist, wieviel Geld er wirklich braucht, um das Leben zu leben, das er wirklich leben will.

Viele Menschen versuchen den Lebensstandard den sie haben zu halten. Aber die Frage ist doch: Macht mich dieses Leben wirklich glücklich? Die Frage die für mich zentral war lautete: „Worauf kann ich verzichten, wenn ich dafür etwas anderes bekomme?“

Ich habe auf Weinreisen früher gerne mal 1000 Euro ausgeben. Heute kaufe ich keinen Wein mehr. Gute Freunde bringen eine Flasche mit, wenn sie mich besuchen, weil sie wissen, dass ich es schätze. Mir macht es dann viel mehr Spaß diesen Wein gemeinsam zu trinken bei einem guten Essen oder am Lagerfeuer. Ansonsten trinke ich Wasser und Apfelsaft und habe nicht das Gefühl etwas zu vermissen.

Dadurch, dass ich auf vieles verzichten kann, habe ich einen viel geringeren Bedarf an Geld. Ich habe meinen Konsum eingeschränkt, ohne dass es mir weh tut. Dadurch kann ich mit einem 50-Prozent-Job gut leben. Für andere Menschen ist der Teilzeitjob vielleicht auch eine Alternative, weil dann mehr Zeit bleibt, um einer Beschäftigung nachzugehen, die dir wichtig ist und dich erfüllt.

Eine Variante die ich auch empfehlen kann ist die Auszeit. Möglichkeiten gibt es genug. Das Ziel ist immer das Gleiche: sich Freiräume zu schaffen. Das ist bei uns in Deutschland angstbesetzt, weil uns das Sicherheitsdenken anerzogen ist. Daher ist das oft ein langer Weg, den man auch stückweise gehen kann. So hat es für mich funktioniert, erst Auszeit,  dann der Ausstieg und jetzt reduzierte Arbeitszeit.

„Ich denke man muss willens sein, sich von altem zu trennen. Ich kann nicht alles behalten wollen was ich habe und trotzdem etwas Neues wollen. Ich muss bereit sein etwas aufzugeben, um offen zu sein für etwas Neues, auch wenn das manchmal weh tut.“

Bei meinem ersten Sabbatical haben mir Kollegen und Peers abgeraten. Das sei ein Karriere-Killer, haben sie vorausgesagt. Aber es hat mir nicht geschadet, denn auch durch meine Erfahrungen auf Reisen in Afrika habe ich mich weiterentwickelt. Ich weiß heute beispielsweise mit Krisensituationen viel besser umzugehen. Denn „Krise“ hat für mich inzwischen eine andere Bedeutung. Selbst wenn ich im Job eine Fehlentscheidung treffe, dann stirbt niemand. So kann ich mich in diesen Situationen viel ruhiger und menschlicher verhalten.

Auf welche deiner Eigenschaften konntest du dich im Laufe dieses Prozesses verlassen?

Ich freue mich immer über neue Erfahrungen. Ich habe mir die kindliche Neugier erhalten, das ist sicher ein Punkt. Mir war auch immer klar, dass ich zurechtkomme. Ich habe dieses Bewusstsein, dass ich mich selbst über Wasser halten kann.

Als Garten- und Landschaftsbauer beispielsweise war ich ungelernte Kraft. Da habe ich 12,50 Euro/Stunde verdient. Jobs, mit denen man nicht auf das Sozialsystem angewiesen ist, lassen sich immer finden, sofern man gesund und leistungsfähig ist. Gleichzeitig weiß ich, dass ich mir nicht zu schade dafür bin einen Job zu machen, der nicht auf dem gleichen Niveau ist wie der, den ich einmal hatte. Ich bin der Überzeugung, dass jede Arbeit ihren Wert hat.

Du musst an dir und deiner Umgebung arbeiten wollen, um etwas voran zu bringen bzw. eine Veränderung hervorzurufen. Dazu gehört Mut, denn du musst Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Was daraus erwächst ist oft ungewiss. Vertrauen in sich selbst und das große Ganze ist hilfreich. Die Bereitschaft zu scheitern gehört auch dazu. Unsere Bienen sind ein Beispiel. Ich hatte mir ein Buch gekauft und danach bin ich vorgegangen. Die Bienenvölker sind leider gestorben. So haben wir uns einmal mehr Rat von außerhalb geholt, mit dem es jetzt hoffentlich besser klappt. Wichtig ist, sich von Fehlschlägen nicht entmutigen zu lassen, zu analysieren warum es schiefgegangen ist und daraus zu lernen. Und hinein zu fühlen, ob das Ziel das ich verfolge wirklich zum Projekt passt. Andernfalls muss ich mich von einer Idee auch verabschieden können.

Ich glaube nicht, dass es generell ein richtig oder falsch gibt, das muss jeder für sich herausfinden. Man muss aber eben die Bereitschaft haben sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Für mich ist das Wichtigste respektvoll miteinander umzugehen.

„Daher suchen wir jetzt auch nach Menschen für unser Projekt die offen sind und in Harmonie mit unserem Flecken Erde leben wollen.“

Verfolgst du mit deinem Selbstversorgerprojekt auch eine Art höheres Ziel?

Im Grunde möchte ich Menschen inspirieren, etwas in ihrem eigenen Leben zu ändern. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise wie wir heute leben, nicht langfristig tragfähig ist, weil wir über unsere Ressourcen leben. Die Lösung liegt sicher nicht darin, dass alle zu Selbstversorgern werden. Ich sage auch nicht, dass der Weg den wir gehen der einzig richtige ist. Er fühlt sich nur für mich gut an. Der Ansatz ist eher, bewusster mit der Natur umzugehen. Also: Wie kann ich mein Handeln verändern, damit es mehr in Einklang mit der Natur kommt?

Wenn jemand nach einem Besuch bei uns sein Verhalten anpasst, beispielsweise seinen CO2-Fußabdruck verkleinert, dann finde ich das super. Ich könnte mir auch vorstellen hier mit Kindern zu arbeiten, z.B. Wochenendfreizeiten mit Gruppen oder Familien. Es gibt viele spannende Möglichkeiten Menschen an das Leben im Einklang mit der Natur heranzuführen.

Die Natur ist für uns Menschen die Voraussetzung für ein lebenswertes Leben. Einige Wenige von uns könnten wahrscheinlich sogar in einer künstlichen Umgebung klarkommen, aber die Frage ist, ob das wirklich erstrebenswert ist.

Von der Politik würde ich mir wünschen, dass Entscheidungen nicht nur getroffen werden, sondern dass diesen Entscheidungen auch relevante Taten folgen. Aber mir ist auch klar, dass Politik immer Zwängen unterworfen ist. Außerdem kann Politik nur das umsetzen, was die Gesellschaft mitträgt. Daher ist unsere Gesellschaft zur Zeit sehr gefordert. Es kommt auf die Veränderungsbereitschaft und das Veränderungsbewusstsein jedes Einzelnen an. Wenn das angekommen ist, dann wird auch die Politik handeln.

Geduld ist nicht meine Stärke aber ich denke gesellschaftliche Änderungen lassen sich nicht erzwingen. Ich wage keine Prognose ob es uns gelingt die Schöpfung zu bewahren. Leider gibt es ja immer noch Menschen die Klimawandel und das Artensterben als Fakt nicht akzeptieren wollen und ich habe keine Idee mehr, wie man es ihnen erklären kann.

Ich bin aber trotzdem optimistisch, denn in meinem beruflichen Umfeld arbeite ich viel mit jungen Leuten zusammen, die in ihrem Handeln sehr konsequent sind und sich begeistert für die Umwelt einsetzen, angefangen vom Verzicht auf das Auto über die vegetarische oder vegane Lebensweise bis hin zur generellen Reduzierung von Konsum. Der Großteil der Gesellschaft hat das Problem sicher verstanden, weiß aber nicht, wie man darauf reagiert. Die Jugend hat hier große Einflussmöglichkeiten auf ihr direktes Umfeld.

In unserem Projekt ist es ähnlich. Die großen Räder sind für uns zu komplex, aber in unserem kleinen Radius können wir Menschen inspirieren, ihnen aufzeigen welche Möglichkeiten sie persönlich haben.

Stefan ich danke dir für diesen inspirierenden Austausch und wünsche euch, dass ihr Menschen findet, die euer Projekt bereichern.

Danke liebe Heike für die Gelegenheit, dies hier vorzustellen!

Wenn ihr euch für Stefans Projekt interessiert, dann empfehle ich euch seine Webseite Leben im Einklang mit der Natur

Anfragen bezüglich der Mitgliedschaft in der Selbstversorgergemeinschaft richtet ihr direkt an ihn per Mail: stefan@blackcontinent.de

Und wenn euch die Abenteuer interessieren, die Stefan und ich gemeinsam in Afrika und anderswo erlebt haben, dann könnt ihr gespannt sein auf mein Buch, das im Mai 2022 erscheinen wird. Alle aktuellen Infos dazu findet ihr auf meinem Instagram Autoren Account @heidimetzmeier und bald auch auf der Webseite https://heidimetzmeier.de

Im Gespräch mit Astrid Hager über Frauen in Führungspositionen

„Die Moral muss wieder mehr Einzug in die Geschäftswelt halten“

 Meine heutige Gesprächspartnerin ist das, was man vielleicht als Vollblut-Geschäftsfrau bezeichnen könnte. Der Vergleich passt vor allem deshalb gut, weil sie seit den frühen Kindertagen eine Leidenschaft für Pferde hat. Im Alter von 12 Jahren begann sie zu reiten und hat dies bis zum heutigen Tag beibehalten, wobei sie ein Vereinspferd reitet, weil sie sich als Führungskraft in Vollzeit nicht gut genug um ein eigenes Pferd kümmern könnte. Außerdem arbeitet sie seit 9 Jahren mit einem Personal Trainer, der ihr hilft, den inneren Schweinehund auch dann zu überwinden, wenn es draußen kalt und dunkel ist. Der Termin montags und freitags um 7 Uhr in der Früh ist fast unverrückbar. Astrid war 23 Jahre lang beim IT-Konzern IBM beschäftigt, mit 28 Jahren hatte sie dort ihre erste Führungsposition inne. Derzeit ist sie bei Bosch für die Projektleiter in der internen IT zuständig und hat rund 200 Mitarbeiter. Für mich ist Astrid ein Vorbild – neudeutsch role model – für Frauen in Führungspositionen, in einem Bereich, in dem der weibliche Anteil in meiner Wahrnehmung unterrepräsentiert ist, weshalb ich mich sehr darauf freue, dieses Feld mit ihr auszuleuchten.

Was bedeutet für dich das Glück auf dem Rücken der Pferde?

Für mich ist das Reiten Ausgleich zum Alltag. Ich kann dabei wunderbar abschalten, den Kopf frei bekommen. Freitag ist Reittag, das ist für mich auch ein gesellschaftliches Ereignis. Sonntags freue ich mich auf das Ausreiten im Wald, dann komme ich in Kontakt zur Natur, das liebe ich.

Wie bist du auf die Idee gekommen, dir einen Personal Trainer zu nehmen?

Die Frau eines Kollegen, die selbst Personal Trainerin ist, hat zu mir gesagt: „Du kümmerst dich immer so viel um andere Menschen, suche dir doch mal jemanden der dir hilft.“ Ich habe das dann einfach ausprobiert und festgestellt wie gut es mir tut, mich zu bewegen, nach einem individualisierten Programm, das auf meine aktuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Ich merke dabei auch, wie stressig meine Arbeitswoche ist, denn Übungen die mir montags leicht fallen, strengen mich freitags viel mehr an. Ich lerne viel über mich selbst, indem ich fokussiert Sport mache. Spaß macht es obendrein, weil der Trainer mich stufenweise an die Herausforderungen heranführt. Er motiviert mich, über mich hinaus zu wachsen und Grenzen zu verschieben. Er hält mich auch dann bei der Stange, wenn es nicht so gut läuft.

Was nimmst du aus deinen Freizeitbeschäftigungen für deinen Beruf mit?

Ich nehme aus allem was ich im Leben tue etwas für das Business mit, ob das der Reitverein ist, der Sport oder etwas anderes. Ich denke oft: „Wenn das für mich funktioniert, funktioniert es auch für meine Mitarbeiter.“ Im Reitverein habe ich außerdem den perfekten Realitäts-Check. Wenn ich sehe, wie gut die Mitarbeiter dort – die ein sehr geringes Lohnniveau haben – in ihrem Leben klarkommen, dann erzieht mich das zur Bescheidenheit und rückt die Perspektiven wieder gerade. Ich probiere gerne Dinge in meiner Freizeit aus und nehme Erkenntnisse daraus in das Arbeitsleben mit. Aber mit tut auch der Freundeskreis gut, in dem das Arbeitsleben außen vor ist. Es muss ja nicht immer nach dem Prinzip „höher, schneller, weiter“ gehen.

Du hast mit der Berufsakademie (BA) einen interessanten Ausbildungsweg gewählt. Wie ist es dazu gekommen?

Ich habe mich bewusst für die Berufsakademie entschieden. Heute würde man das übrigens duale Hochschule nennen. Mich hat das Konzept vom Studium parallel zur Arbeit gereizt. Ursprünglich hatte ich mich in der Firma meines Vaters beworben, kam auch in die Endrunde der letzten 4, wurde aber dann mit der Begründung abgelehnt, dass ich als Frau schwanger werden kann! Das ist jetzt 30 Jahre her. IBM hatte damals schon den Ansatz Frauen zu fördern. Ein Drittel der BA-Stellen wurden daher mit Frauen besetzt, um sie innerhalb des Unternehmens auch auf höhere Positionen entwickeln zu können. Mir haben sie damals die BA für den Bereich Wirtschaftsinformatik angeboten und so bin ich zur IT gekommen, obwohl ich das ursprünglich gar nicht auf dem Zettel hatte. Ich habe mich mit Mobile Computing beschäftigt, war im Vertrieb, habe Produktmanagement gemacht und mit meinem ersten Team als Führungskraft komplexe Serviceverträge für Kunden erstellt. Danach bin ich ins Pricing gewechselt und landete schließlich in einer Position die der eines COO (Chief Operating Officer) ähnlich ist, für einen definierten Geschäftsbereich der IBM. Zwischendurch habe ich berufsbegleitend in Henley einen durch die IBM finanzierten MBA-Studiengang belegt. Das hat mir viel Spaß gemacht, weil ich durch die langjährige Berufserfahrung die theoretischen Modelle die im Rahmen der Ausbildung vermittelt wurden, mit der Praxis gut verknüpfen konnte. Außerdem habe ich über dieses Studium europaweit jede Menge Freunde gewonnen, mit denen ich bis heute einen regen Austausch pflege.

Das klingt nach jonglieren mit sehr vielen Aufgaben. Wie bekommst du das alles unter einen Hut?

Ich bin jemand der unter Druck gut arbeiten kann und lege, wenn es denn sein muss, auch eine Nachtschicht ein. Aber ich bin auch niemand der sich an einer Aufgabe verschnörkelt. Ich bin Pragmatikerin. Ich wende die Theorie dort an, wo sie nützlich ist. Ich nehme mir die Freiheit Modelle so anzupassen wie ich sie brauche. Ich setze dann beispielsweise nur 70 % davon ein, halte mich also nicht sklavisch an theoretische Vorgaben.

Warum denkst du hat man dir in so jungen Jahren eine Führungsposition zugetraut?

Mein Deutschlehrer hat mir in mein Poesiealbum folgenden Spruch geschrieben:

„Große Tugenden machen einen Menschen bewundernswert, die kleinen Fehler machen ihn liebenswert. Beides besitzt du reichlich und in so guter Mischung, dass ich dir wünsche du mögest so bewundernswert und so liebenswert bleiben in deinem Leben.“ Der gleiche Lehrer hat auch gesagt: „Die wird mal Manager.“ Die Fähigkeiten dazu sind wohl in mir angelegt und das wurde früh von meinen Arbeitgebern erkannt. Bei IBM war der Auswahlprozess relativ langwierig, aber auch dort hat man mir Führungsaufgaben zugetraut. Hinzu kommt, dass ich gute Chefs hatte. Es kommt nämlich auch auf die Förderung innerhalb des Unternehmens an und da hatte ich großes Glück auf die richtigen Männer zu treffen.

Wenn es um die Qualitäten geht, denke ich, ist eine meiner Stärken gut zuhören zu können und mich gut in die Schuhe meines Gegenübers zu versetzen.

Was hat dich motiviert das Unternehmen zu verlassen, das dich gefördert hat?

Es hat sich irgendwann die Gelegenheit ergeben, mich bei Bosch vorzustellen. Ich war Mitte 40 und stand vor der Wahl, entweder jetzt zu gehen, oder bis zum Ende der beruflichen Laufbahn zu bleiben. Der Wechsel von einem amerikanischen, quartalsgetriebenen IT-Riesen zu einem deutschen, stiftungsorganisierten Unternehmen mit viel Wertschätzung für seine Mitarbeiter erschien mir reizvoll.

Wie beurteilst du das Geschlechterverhältnis in technischen Berufen?

Was die technischen Themen angeht sind Frauen immer noch in der Minderheit. Ich war sehr häufig in meiner Laufbahn die einzige Frau in einem Meeting und ich habe als Führungskraft schon Abteilungen geleitet, die nur männliche Mitarbeiter hatten.

Ich glaube tatsächlich, dass die Prägung bereits im Kindesalter mit geschlechtsspezifischem Spielzeug beginnt. In meinem Elternhaus hat glücklicherweise niemand die Krise bekommen, wenn ich die Bohrmaschine oder den Schraubenzieher zur Hand genommen habe. Die geschlechtsspezifische Trennung setzt sich in der Schule fort. Es ist immer noch ungewöhnlich, wenn Mädchen als Leistungskurs Physik wählen. Meiner Meinung nach müssten wir Mädchen schon sehr viel früher aufzeigen, dass Technik spannend ist. IT bestimmt heute unseren Alltag, wenn wir Kinder beider Geschlechter daran heranführen, dann werden sich auch Frauen mehr für technische Studiengänge interessieren. Es muss einfach transparenter werden, was wir damit für Möglichkeiten haben.

Schließlich haben natürlich auch die Unternehmen eine Verantwortung mehr Frauen einzustellen.

Wir haben als Gesellschaft sehr lange gebraucht um Dinge zu etablieren, die es den Frauen erleichtern, Job und Familie zu vereinbaren, wie flexible Arbeitszeit, Teilzeitmodelle oder Home-Office. Viele Frauen haben immer noch Schwierigkeiten einen Platz in der Kindertagesstätte zu bekommen. Umgekehrt werden in manchen Branchen Männer immer noch seltsam angeschaut, die Elternzeit nehmen wollen.

Manche Gesetze sind altbacken und passen nicht mehr zu unserer modernen Arbeitswelt. Hier tut Veränderung not. Es wäre schön, wenn wir diesbezüglich einmal über den Tellerrand schauen würden, nach Frankreich zum Beispiel, wo flexibles Arbeiten und Kinderbetreuung gut geregelt sind.

Ich würde an dieser Stelle aber auch gerne anmerken, dass es viele Branchen gibt, in denen Männer unterrepräsentiert sind. Wie viele Grundschullehrer gibt es, Krankenpfleger oder Kindergärtner? Auch hier würde uns ein höherer Anteil guttun. Wie bei allem ist der Mix entscheidend.

Bist du eine Freundin der Quote?

Ich bin da gespalten, denn für mich hat das immer das Geschmäckle, Frauen seien nicht gut genug für den Job. Andererseits glaube ich, dass man, wenn man Veränderung herbeiführen will, dies mit Nachdruck tun muss. Die Quote ist dazu ein probates Instrument, vorausgesetzt die Frau ist ebenso qualifiziert, wie der Mann der sich bewirbt.

Welchen Unterschied erlebst du als Führungskraft zwischen männlichen und weiblichen Mitarbeitern?

Männer verhalten sich anders als Frauen – es gibt natürlich auch immer Ausnahmen. Frauen sind eher selbstkritisch, während die meisten Männer sehr selbstbewusst auftreten. Sie sind proaktiv bei der Frage der Gehaltserhöhung und können nach eigenem Bekunden das, was eine neue Position verlangt, während Frauen ihre eigenen Fähigkeiten eher hinterfragen und zweifeln, ob sie für eine Aufgabe geeignet sind. Frauen sind für meinen Geschmack zu bescheiden und sollten sich trauen mehr einzufordern. Frauen arbeiten oft unglaublich hart, aber sie verkaufen ihre Leistung häufig schlecht. Bei Männern in einer Runde lehne ich mich manchmal einfach zurück, wenn ich merke, dass hier gerade ein Kampf um die Alpha-Position stattfindet. Dann lasse ich das eine Weile laufen, weil sich die Herren dann eh nicht auf die Sache konzentrieren können. Frauen hingegen wirken manchmal schon alleine durch ihre Gegenwart de-eskalierend. Meetings nehmen dann keinen unangenehmen Verlauf mehr, weil sich der Gesprächston ändert, wenn unterschiedliche Geschlechter am Tisch sitzen.

Wie ist es denn für dich als Führungskraft Mitarbeiter weiterzuentwickeln?

Das ist ehrlich gesagt immer ein Spagat. Talentierte Mitarbeiter auf eine höhere Position ziehen zu lassen ist natürlich zum Wohle der Firma, aber ich verliere dann meine besten Leute, was der Produktivität meiner Abteilung erst einmal schadet. In der deutschen Unternehmenskultur ist es ja so, dass der Job gar nicht so häufig gewechselt wird, in amerikanischen Unternehmen hingegen ist es ganz normal alle 2 bis 3 Jahre etwas anderes zu machen. Ich fasse mich inzwischen an die eigene Nase und sage mir, dass es wichtig ist gute Leute zu fördern, so wie ich selbst von meinen Chefs gefördert worden bin. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch darum, Mitarbeiter, die Gestaltungswillen haben, nach vorne zu bringen, damit Innovation und Veränderung entstehen kann.

Was macht deiner Meinung nach die Qualität einer guten Führungskraft aus und gibt es Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Führungsstil?

Ich habe die Erfahrung, dass Frauen das Große und Ganze besser im Blick haben und sich wünschen, dass man als Team etwas erreicht.

In unserer agilen Arbeitswelt ist es wichtig, Mitarbeiter auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören und dabei alle mitzunehmen. Dafür braucht man ein spezielles, vielleicht eher weibliches, Führungsverhalten.

Andererseits gibt es in einem Unternehmen unterschiedliche Aufgaben und entscheidend ist, wen man für welche Aufgaben einsetzt und wie man die entsprechenden Personen motiviert. Meiner Meinung nach sind unterschiedliche Führungsstile und Methoden für den Erfolg erforderlich und das geht nur, wenn unterschiedliche Führungspersönlichkeiten in einem Team vertreten sind – da wären wir wieder beim richtigen Mix. Die Kunst der Führung ist es, Menschen richtig einzusetzen, so dass in Teams wechselnder Zusammensetzung das aktuelle Ziel optimal erreicht werden kann.

Ich habe übrigens die Erfahrung gemacht, dass wir dazu tendieren, Menschen in das Team aufnehmen zu wollen, die einem selbst ähnlich sind. Das ist ein Fehler. Mitarbeiter an denen ich mich reibe, bringen häufig sehr gute Ideen ein.

Wie verändert sich die Arbeitswelt durch Technik?

Wir sehen ja seit Corona, dass Menschen von überall remote arbeiten. Die spannende Frage wird sein, wie wir die Gesetze entsprechend anpassen können. Wenn jemand reomte auf den Seychellen für ein deutsches Unternehmen arbeitet, muss er dann zwangsläufig seine Steuern und Abgaben in Deutschland entrichten? Das werden noch spannende Fragen.

Was glaubst du, ist die Digitalisierung Teufelszeug oder ein Segen?

Digitalisierung ist per se kein Teufelszeug, aber es ist natürlich immer die Frage, was man damit macht. Es geht bei diesem Thema vor allem um Datensicherheit. Meine persönliche Einschätzung ist, dass uns gerade im Alltag die Digitalisierung noch viele Erleichterungen bringen wird, wie etwa bei Behördengängen oder der Beantragung von Dokumenten. Einen Schritt weiter gedacht, können unsere Haushaltsgeräte sich wahrscheinlich in Zukunft dann einschalten, wenn die Energiezufuhr – etwa durch Wind oder Solarstrom – gerade am größten ist. Verkehrsflüsse können durch intelligente Lösungen besser geregelt werden. Ich denke auch, dass der digitale Unterricht viel Potenzial hat. Die Gesundheit ist ein weiteres großes Feld der Digitalisierung, z. B. digital gesteuerte Prothesen, mit deren Hilfe Menschen wieder gehen können. Das ist heute schon Realität. Selbst im ökologischen Bereich hat die Digitalisierung ihren Platz. Bei Bosch haben wir, als es um das Thema CO2-Neutralität ging, sehr viele Prozesse mit Hilfe der IT untersucht, geschaut wo die großen Energieverschwender versteckt sind, um das Einsparpotenzial zu vergrößern. Ich denke, dass die Digitalisierung uns in vielen Bereichen als Gesellschaft weiterbringen wird.

Das entscheidende ist, wie wir eine Balance finden, zwischen der Gewinnmaximierung und den ethisch-moralischen Fragestellungen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Hier müssen wir uns einen Kodex verordnen, in dem wir so wichtige Dinge regeln wie den korrekten Umgang mit Daten, damit diese nicht manipuliert, missbraucht oder gestohlen werden. 

Gleichzeitig muss es darum gehen, welche Prozesse nachhaltig mit Hilfe der Digitalisierung gestaltet werden können. Welche Materialien können wir verwenden, ohne dabei Menschen in anderen Ländern – Stichwort Kobalt aus Afrika – zu benachteiligen? Da geht es um den Umgang miteinander, das ist kein IT-Problem, sondern eine gesellschaftliche Frage.

Die Moral muss wieder mehr Einzug in das Geschäftsleben halten. Eine wichtige Aufgabe für die Zukunft wird sein auszuloten, wo die Grenzen sind, die wir nicht überschreiten sollten, in Bezug auf uns Menschen, aber auch auf die Natur.

Was die Komplexität erhöht ist, dass wir das nicht regional lösen oder entscheiden können, sondern global angehen müssen. Dazu wird es notwendig sein, sich ganze Prozessketten Ende-zu-Ende anzuschauen. Hier sind sehr viele Strömungen unterwegs, die es zu vereinen gilt. Das wir noch viel Zeit brauchen, insbesondere weil Politik auf Kompromissen basiert, die schwer zu schließen sind.

Welche Tipps hast du abschließend für Menschen, die sich unternehmerisch betätigen wollen?

Wichtig ist meiner Meinung nach, sich in verschiedenen Positionen und Situationen auszuprobieren, um festzustellen, was einem wirklich liegt. Die Frage ist auch weniger, welche Titel oder Scheine ich brauche, sondern welche Dinge ich für mich persönlich aus einer Aus- oder Weiterbildung, einem Coaching oder einer berufsbegleitenden Maßnahme mitnehmen kann und wofür ich mich selbst begeistern kann. Der MBA z.B. war eine sehr gute Erfahrung für mich persönlich, dass ich ihn für meinen Werdegang gebraucht hätte, kann ich jetzt nicht sagen.

Und schließlich: Sich die Zeit nehmen Erfolge und Abschlüsse zu feiern!

Liebe Astrid, ich danke dir!

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Vorgestellt – Astrid Hager

Heute habe ich mit Astrid Hager gesprochen, die in der internen IT bei Bosch ein weltweites Team von IT-Projektleitern führt. Nebenher ist Sie Teil eines Projektteams, dass die interne IT komplett umkrempelt – weg vom klassischen Cost Center hin zum IT-Partner für die Geschäftsbereiche auf Augenhöhe. Als Basis dient ihre 23-jährige Erfahrung bei IBM in unterschiedlichen Berufsbildern: Geschäftsverantwortung eines Servicebereiches,
Leitung der internen Revision und der Geschäftssteuerung in unterschiedlichen Bereichen. Parallel war Sie 14 Jahre für die Finanzen des Reitervereins Sindelfingen zuständig.